Kapitel 19

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Ungläubig trat ich ein, den Mund staunend aufgerissen.

Ich konnte nicht fassen, dass es tatsächlich so weit war. Früher hätte ich Valerie wahrscheinlich kichernd gebeten, mir in den Arm zu kneifen, um zu überprüfen, ob ich vielleicht träumte.

Doch nun stand ich einfach nur da, die Hände leicht zu beiden Seiten ausgestreckt. Wie ein Schmetterling, der seine Flügel entfaltete.

"Hier", sagte Valerie mit einem Grinsen und ließ einen großen Schlüssel in meine Hand fallen. Mein Arm drohte unter dem Gewicht wegzusacken, doch meine Finger krallten sich um das Metall.

Nie würde ich es wieder loslassen.

Ich hielt nicht nur den Schlüssel zu meiner neuen Wohnung in der Hand, sondern auch den Schlüssel zur unbegrenzten Freiheit. Glaubte ich zumindest.

Freitag war gekommen, wie erwartet. Und nun stand ich hier, zusammen mit Valerie und meinen Eltern, die merkwürdig fehl am Platz wirkten. Mama hatte sich an Papas Arm geklammert, beide trugen noch immer ihre Mäntel und Jacken.

Obwohl es Sommer war.

Die ganze Fahrt über hatte ein peinliches Schweigen die Atmosphäre im Auto bestimmt. Meine Eltern sollten gar nicht erst glauben, ich hätte nicht gemerkt, wie Dad das Tempo gedrosselt hatte, sobald Valeries Altbauwohnung in Sichtweite gekommen war. Sie wollten mich nicht gehen lassen, dessen war ich mir durchausbewusst. Allerdings trugen mich meine Füße fort.

Fort aus meinem gut behütetem Elternhaus. Fort von ihnen.

Es tat mir ja Leid, verdammt! Ich wusste, dass ich eine grauenvolle Tochter war. Doch lag es nicht auch in meiner Verantwortung, eine gute Schwester zu sein?

Die letzten Tage hatten Mama und Valerie das Gästezimmer neu eingerichtet und umgestaltet. Für mich. Jetzt war es mein Zimmer. Fast wahnsinnig vor Glück strahlte sich, als sich das Tor zu meinem Reich öffnete und ich zum ersten Mal das Ergebnis ihrer Arbeit sah.

Grinsend biss ich mir auf die Lippe und widerstand erfolgreich dem Wunsch, aufgeregt durch den Raum zu hüpfen. Ganz genau nahm ich nun alles unter die Lupe.

Auf meinem weißen Bett lag eine blaue Decke, gegenüber davon war die Wand ebenfalls in einem blauen Muster tapeziert worden. Staunend trat ich näher und strich über die Tapete. Neben dem weißen Bücherschrank befanden sich mehrere Reale mit Fotos.

Fotos von mir und Margot.

Fotos von mir bei Wettläufen.

Fotos von mir und meiner Familie im Urlaub.

Mir stiegen fast die Tränen in die Augen, als ich ein Bild entdeckte, auf dem wir vier am Strand abgebildet waren, das rauschende Meer im Hintergrund. Gleich neben dem Rahmen hatten Mama und Valerie eine Hand voll Sand gestreut.

"Gefällt es dir?", fragte Mama schwach lächeln. Sie stand wenige Schritte hinter mir, die Arme um den Körper geschlungen. "Es ist wunderschön", konnte ich nur flüstern.

Auf ihrem Gesicht breitete sich ein verzagtes Strahlen aus. "Ich weiß ja, wie sehr du das Meer magst", ergänzte sie und für einen Moment versagte ihre Stimme. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, sie in den Arm zu nehmen, doch da betraten auch Vali und mein Vater das Zimmer. Schlagartig endete der intime Augenblick zwischen Mama und mir, ihr Lächeln verblasste und sie versteifte sich merklich.

"Der Vertrag", sagte Papa schweren Herzens und versuchte, sein Unbehagen zu verbegen. Ich hingegen musste mich zusammenreißen, nicht gierig nach den Zetteln in seiner Hand zu greifen. Stattdessen appellierte ich an meine Vernunft und folgte Valerie an ihren - unseren - kleinen Tisch vor dem Fernseher.

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