Kapitel 8

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(Bild: Nikki)

Bevor Mama zurück kam, räumte ich noch die ganzen Duschbäder unter mein Bett. Eine Erklärung wäre sinnlos gewesen, sie hätte es ohnehin nicht verstanden, warum ich mich ständig schmutzig fühlte.

Verwundert hob ich den Kopf, als mir ein köstlicher, fast vergessener Geruch in die Nase stieg. Etwas unbeholfen stand ich vom Boden meines Zimmers auf und drückte übertrieben vorsichtig meine Türklinke herunter. Ein weiteres Mal schnupperte ich, als wäre ich ein Wolf auf der Jagd, bis ich mich endlich nach unten wagte. Mit lautlosen Schritten sprang ich wie ein Reh die Treppe herunter.

Mit einem verzagten Klopfen an die bereits offen stehende Tür trat ich ein.

Tatsächlich war es meine Mutter, die mit dem Rücken zu mir stand und fröhlich summend Äpfel schälte. "Mama?", fragte ich leise, die Arme um meinen Körper geschlungen.

Strahlend wandte Mama sich zu mir um. "Elinor!", rief sie und ging mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Unwillkürlich zuckte ich zurück, doch sie schien es kaum zu bemerken. "Es gibt wunderbare Neuigkeiten. Ich habe mit Dr. Meder gesprochen und sie hat gesagt, dass du schon in einigen Tagen mit der Therapie anfangen kannst. Nächste Woche Montag geht es los!"

Gespannt wartete sie meine Reaktion ab, sodass ich mich gezwungen sah, mir ein Lächeln abzuringen. Es musste wie eine schreckliche Grimasse aussehen, doch Mama bemerkte nichts und fuhr sogleich fort: "Sie hat gesagt, dass diese Psychologin Erfahrung auf diesem Gebiet hat. Das ist doch toll, nicht wahr, Ellie?" Ja, das war ja so fantastisch, dass ich mich kaum einbekam vor Freude.

Ich biss die Zähne fest zusammen, entschlossen, mir meine Wut nicht anmerken lassen.

"Was machst du da?", wollte ich wissen, ohne auf ihre Frage einzugehen. "Ähm", machte Mama verwirrt und sah von mir zu der Arbeitsplatte. "Ich backe Apfelkuchen", antwortete sie irritiert. "Für dich!"

Das war mir auch schon aufgefallen. Seit ich ein kleines Kind war, gehörte Apfelkuchen zu meinen Leibgerichten. Ich erinnerte mich noch genau - es musste mein siebter Geburtstag gewesen sein, ein Jahr nachdem Mama mich beinahe beim Anzünden der Kerzen in Brand gesteckt hatte - als Mama einmal statt einem einfachen Apfelkuchen eine Himbeertorte gebacken hatte, weil Valerie die am liebsten mochte. Mein Ausraster war sowohl mir, als auch all meinen schockierten Verwandten nur zu gut im Gedächtnis geblieben.

Ich verschränkte die Arme und zog die Augenbrauen zu einer einzigen Linie zusammen. "Um diese Uhrzeit? Wir essen doch gleich Abendbrot . . .", gab ich etwas pampig zurück. Ich hatte keine Ahnung, woher mein plötzlicher Zorn kam, ich wusste nur, dass er da war.

Verwirrt ließ Mama den Löffel sinken, für einen Moment schien sie sprachlos. Dann eroberte sie ihre Fassung wieder zurück und setzte erneut ihr strahlendes Lächeln auf. "Ich weiß", meinte sie mit einer Spur zu viel Fröhlichkeit, als dass diese echt sein konnte. "Heute gibt es einmal Kuchen zum Abendbrot. Papa kommt extra früher von der Arbeit, ist das nicht großartig?"

Papa nahm sich Zeit für mich? Das stimmte mich gleich etwas friedlicher, sodass ich nickte und mich an den Tisch setzte. "Wie war es mit Margot?", erkundigte sich Mama, während sie mir die Schüssel mit den Teigresten reichte. Es fühlte sich verdammt gut und ausnahmsweise mal vertraut an, die klebrige Masse mit einem Löffel auszukratzen. Wie früher.

"Ganz gut", meinte ich vage und leckte mir über die Lippen. "Ich treffe mich morgen mit den anderen, wir gehen ins Kino und Eis essen", fiel es mir wieder ein. Mama sah erstaunt von ihrer Arbeit hoch: "Oh? So früh schon?" Ich nickte.

Eine Weile sprach niemand von uns, wortlos stellte Mama mir den Teller mit den Apfelschalen hin. "Hat Valerie sich noch gemeldet?", fragte sie weiter. Ich unterdrückte ein genervtes Seufzen und gab ein gegrummeltes "Hmmm . . ." von mir.

"Und?", Mama ließ einfach nicht locker. Gut, wenn sie so dringend wissen wollte. "Mit Valerie treffe ich mich auch morgen, am Abend gegen wir irgendwo etwas essen", teilte ich meiner Mutter mit einem bewusst provozierendem Blick mit, wobei ich mir genüsslich eine Apfelschale in den Mund schob.

"Elinor", fing Mama an, schon wieder in ihrem Oberlehrer-Ton. "Hältst du das wirklich für eine gute Idee?" Eindringlich musterte sie mich, als wollte sie sagen: Du wurdest vergewaltigt. Wir wissen das beide, denk besser noch mal über deine Entscheidung nach!

Zornig stand ich auf, wobei ich mich mit einem lauten Knall auf dem Tisch abstützte. "Ja!", erwiderte ich mit Nachdruck. "Wieso? Valerie durfte früher so oft weggehen, wie sie wollte. Und im Übrigen habt ihr mir gar nichts zu sagen. Ich bin jetzt volljährig, schon vergessen?"

So standen wir uns gegenüber, Mutter und Tochter in der Küche, streitend und fauchend. Genau wie früher. Nur ohne Valeries überhebliche Blicke und Papas Schweigen. Ohne etwas zu sagen funkelten wir uns an, bis Mama schließlich den Blick abwandte und sich ihre Hände am Handtuch abtrocknete.

"Das kann man nicht vergleichen und das weißt du auch", antwortete sie barsch, während sie das gemusterte Handtuch wieder an seinen Platz hängte. "Valerie wurde nicht vergewaltigt so wie du."

Ich zuckte zurück. Das hatte gesessen wie ein gut gezielter Schlag ins Gesicht. Mir traten schon wieder die dummen Tränen in die Augen, die ich schnell fort blinzelte. Es war, als hätte sie tatsächlich "Valerie hat sich nicht vergewaltigen lassen so wie du" gesagt, und trotzdem wusste ich, dass sie genau das gemeint hatte.

Mama hatte wohl gemerkt, dass sie zu weit gegangen war, denn sie bat mich rasch um Verzeihung. "Es tut mir Leid, Elinor, bitte, so war das nicht gemeint! Bleib hier!", flehte sie verzweifelt, doch ich hatte bereits unseren Esstisch umrundet und war auf dem Weg zur Tür.

"Was ist mit dem Apfelkuchen, den magst du doch so gerne!", versuchte sie es erneut und stolperte über einen der Stühle bei dem Versuch, mir nachzueilen. "Hab keinen Hunger mehr", gab ich lediglich ruppig zurück und schlug die Tür mit einem Knall hinter mir zu, sodass das Glas in der Scheibe erzitterte.

Während ich verletzt und gedemütigt die Treppe hochstapfte, hoffte und flehte und betete ich, Mama würde mir folgen. Ich wollte, dass sie mir nachlief und mich in den Arm nahm so wie früher und mir versicherte, dass sie es nicht so gemeint hatte.  All das wünschte ich mir, doch zugeben konnte ich es nicht.

Mama kam nicht. Die Küchentür blieb geschlossen.

In meinem Zimmer setzte ich mich an meinen Schreibtisch und fummelte nervös am Saum meines T-Shirts herum. Niedergeschlagen dachte ich an das Gespräch eben. Selbst Mama glaubte, dass es meine Schuld war und ich mich hätte wehren können. Und sie hatte doch Recht. Gott, ich war so blöd! Wieso war ich auch alleine laufen gewesen? Wie oft hatte Papa seinen Unmut zum Ausdruck gebracht, da er nicht wollte, dass ich alleine durch den Wald joggte?

Ich hatte es nicht anders verdient.

Auf Mamas halbherzigen Versuch, mich zum Abendbrot dazu zu holen, reagierte ich erst gar nicht. Wenn Valerie sauer auf sie gewesen wäre, hätte sie längst Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um alles wieder gut zu machen, doch für mich war ihr der Weg in die zweite Etage zu weit.

Wütend schnappte ich mir ein neues Duschbad. Die Einsicht, dass alles meine Schuld war, hatte den Scham und den Ekel vor mir selbst zurückgebracht. Der Schmutz juckte unter meiner Haut und musste abgewaschen werde. Ich wusste: Wenn ich mich erst einmal ordentlich geduscht hatte, würde es mir besser gehen.

Und so war es auch. Zumindest für den Moment fühlte ich mich wieder gut. Allerdings wusste ich bereits jetzt, dass ich in der heutigen Nacht noch mindestens zwei Mal wieder ins Bad laufen würde, geplagt von dem Dreck, der sich in solchen Momenten überall an meinem Körper befand.

Als ich mit nassen Haaren über den Flur zurück in mein Zimmer ging, hörte ich ein leises Schluchzen. Mit einer Mischung aus Neugier und Erstaunen lehnte ich mich über das Geländer und traute meinen Augen kaum, als ich meine Mutter entdeckte. Sie hatte sich auf dem untersten Treppenabsatz zusammengekauert und die Beine angewinkelt. Leise weinte Mama in ein Taschentuch, zwischendurch schnaubte sie immer wieder aus, sehr bedacht darauf, keinen einzigen Laut von sich zu geben.

Die Erschöpfung packte mich und riss mich zu Boden. So lag ich da, in der zweiten Etage, tonlos weinend, während Mama genau das gleiche in der ersten Etage tat. Wir versteckten lieber unsere wahren Gefühle vor dem jeweils anderem, nur um nicht zugeben zu müssen, dass wir verletzt und verwirrt waren und beide ohne Orientierung im Trümmerhaufen unseres alten Lebens herumwühlten.

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