(Bild oben: Valerie Wagner)
Schnaufend erreichte ich unser Haus und stolperte durch das Gartentor. Ich brauchte einen Moment, um den Schlüssel ins Schloss zu stecken, da meine Hände so sehr bebten. Als ich es endlich geschafft hatte, riss ich panisch die Tür auf.
Auf der Schwelle fielen mir alle Duschbäder aus dem Arm und ich bückte mich rasch, um sie mit hektischen Bewegungen wieder einzusammeln, während mir die Tränen in den Augen standen.
Was war das denn bitte gerade gewesen?
Ein weiterer Kontrollverlust, der mir nur erneut klar machte, dass sich mir alles entzog und ich über scheinbar nichts mehr bestimmen konnte. Genau wie die Duschbäder eben glitt mir auch der Rest meines Lebens durch die Finger.
Sachte schloss ich die Tür. Weder Mama, noch Papa, schien bereits wieder zurück zu sein. Darüber sollte ich eigentlich erleichtert sein, doch ein beklemmendes Gefühl erfasste mich. Früher, wenn sich jemand verspätet hatte, war ich immer von der Angst kontrolliert worden. Sofort hatte ich mit dem schlimmsten gerechnet und mir die grausamsten Szenarien ausgemalt. Vor meinem inneren Augen hatte sich dann ein Autounfall oder ein Amoklauf abgespielt und ich hatte wimmernd auf der Treppe gehockt und auf die Rückkehr meiner Eltern gewartet.
Jetzt ließ ich mich erschöpft an der Rückseite der Haustür herabgleiten, bis ich schließlich auf dem Boden saß, das Gesicht in den Händen verborgen. Der Schweiß lief mir in Strömen die Stirn herunter.
Angstschweiß.
Schluchzend erhob ich mich und ging mit stockenden Schritten in die Küche. Dort angekommen lehnte ich mich gegen die Theke und stütze meine nassen Hände auf der grauen Arbeitsplatte ab. Meine Sicht war verschleiert von den Tränen, trotzdem sah ich mich so gut es ging um.
Das war unsere Küche.
In unserem Haus.
In Pankow, in Berlin.
In unserer Heimat.
Zitternd atmete ich aus. Alles kam mir so fremd vor, dabei handelte es sich doch um mein vertrautes Umfeld, mein trautes Heim. Müsste ich mich nicht gerade hier wohl fühlen? Die braunen Locken fielen mir ins Gesicht und ich strich sie langsam hinter mein Ohr.
Dann schleppte ich mich müde nach oben, die große Anzahl von Duschbädern in einer Tüte verstaut. Die Arme um meinen Körper geschlungen, ging ich zögernd unseren Flur entlang. All die Fotos an den Wänden erinnerten mich an die Person, die ich bis vor wenigen Tagen war und an das Leben, das ich bis vor kurzem geführt habe. All die Erinnerungen waren nicht mehr meine.
Auch unser Bad kam mir ungewohnt fremd vor.
Eine Sekunde später merkte ich schon, wie das Wasser mir wieder über den Rücken lief und ich das erste Duschbad öffnete. Großzügig verteilte ich es auf meinem ganzen Körper, bis meine Haut schon ganz rot vom vielen Einreiben war. Doch ich konnte nicht aufhören.
Als ich schließlich aus der Dusche stieg, duftete ich wie ein süßer Bonbon. Das Atmen fiel mir nun leichter, glücklich sog ich den künstlichen, chemischen Geruch nach Erdbeeren und Sahne ein. Nach dem Abtrocknen ließ ich das Handtuch fallen und entblößte so meinen nackten Körper. Nachdenklich schaute ich mich selbst im Spiegel an.
Ich war nicht so mager wie Nikki, aber auch nicht so mollig wie Yoko. Ich hatte weder Vickys begehrte Rundungen, noch Margots Oberweite.
Nein. Ich hatte lange, schlanke Beine, war aber eher sportlich gebaut als zart oder stämmig. Meine Brüste waren recht klein und mein Bauch flach. Ekel erfasste mich und ich wandte mich abrupt ab, um meinen Körper wieder zu bedecken. So viel nackte Haut verursachte einen Würgereiz bei mir, daher schlüpfte ich schnell in eine bequeme Jogginghose und mein geliebtes Nirvana-T-Shirt
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Victim
Teen Fiction»Ich wünschte, er hätte mich getötet. Es wäre besser, tot zu sein. Alles war besser als das hier. Diese ständigen Flashbacks. Die an mir nagenden Erinnerungslücken. Der Schmutz unter meiner Haut. Der unerträgliche Scham. Die grauenhaften Alpträume...