Es sollte noch ein paar Tage dauern, bis dann endlich die langersehnte Nachricht kam. Das alte Klapphandy von Nokia gab ein kurzes Surren von sich, was mich augenblicklich von meiner Lektüre hochschrecken ließ.
Schon bevor ich Sherlock Holmes auf das Sofa gefeuert hatte und zur Küchentheke gesprintet war, wusste ich, dass die SMS nur von einer meiner Freundinnen stammen konnte. Niemand anderem hatte ich nach der Mobbingattackemeine neue Handynummer geben wollen und meine Eltern würden mich - genau wie Valerie - immer auf unserem Haustelefon anrufen.
Tatsächlich leuchtete Margots Name mit einem Herz dahinter auf dem winzigen Display auf. Ich brauchte mehrere Anläufe, um die Nachricht mithilfe der knubbeligen Tasten zu öffnen, und als es dann endlich soweit war, schlug mir mein Herz vor Aufregung bis zum Hals.
Viel zu lange brauchte das alte Teil, um die SMS zu laden, ganz ungeduldig starrte ich auf das Symbol mit dem Briefumschlag. Was, wenn es nun doch etwas ganz Banales war, das mir meine beste Freundin mir mitteilen wollte?
Doch ich wurde nicht enttäuscht.
Es hat geklappt! Wir treffen uns morgen mit Nikki im Freibad. 14 Uhr.
Drei kurze Sätze. Dreizehn Wörter. So wenig Text, so viel Inhalt.
Es war kaum vorstellbar, was für gemischte Gefühle diese kurze, aber dennoch so informative, verheißungsvolle, hoffnungsschürende Nachricht in mir auslöste.
Einerseits hatte ich Angst. Ich hatte so große, unfassbare Angst, ich bekam richtig Panik bei dem Gedanken, Nikki unter gegenüber zu treten. Ganz im Gegensatz zur Victoria hasste Nikki Überraschungen, egal ob positiv oder negativ, während es für Victoria nichts besseres als eine überraschende Wendung der Ereignisse oder eine Überraschungsparty (im besten Fall für sie selber) gab. Ich erinnerte mich noch genau, wie Nikki einmal fast ausgerastet war, als wir heimlich auch ihre Großeltern zu ihrem Geburtstag eingeladen hatten, um ihr eine Freude zu bereiten. Stattdessen war sie in Tränen ausgebrochen, hatte Schweißausbrüche gekriegt und uns hysterisch aus dem Raum gescheucht. Eigentlich wollte ich mir gar nicht ausmalen, wie sie reagieren würde, wenn sie herausbekam, dass das Treffen eine Falle war.
Andererseits war ich neugierig. Tatsächlich war meine Neugier so wahnsinnig groß, sie nagte und zerrte an mir und verlangte vorwurfsvoll, dass ich sofort zu Nikki gehen und die ganze Sache klären müsse. Ich wollte ja selber auch wissen, was eigentlich los war. Warum sie sich so komisch verhielt, sich von allen abschottete, nicht auf unsere Nachrichten reagierte. Ich wollte verdammt noch mal endlich wissen, was ihr Benehmen mit meiner Vergewaltigung zu tun hatte oder ob es vielleicht einen ganz anderen Grund gab. Und vor allem wollte ich Nikki als Freundin zurück. Ich vermisste sie so schmerzlich, obwohl ich ihr komplett egal zu sein schien.
Es gab da gar keine Frage, gar keine Alternative darüber weiter nachzudenken: Ich würde mit ins Freibad gehen.
Bereits Sekunden nachdem ich diesen kühnen Entschluss gefasst hatte, fiel es mir siedend heiß ein: Ich konnte nicht ins Freibad gehen! Weil, die logische Schlussfolgerung wäre ja, dass ich mich so gut wie nackt zeigen müsste. Völlig entblößt. Nur ein paar Fetzen Stoff, die meinen schmutzigen, dreckigen Körper bedeckten. Vor fremden Leuten. Die dann frei über mich urteilen konnten.
Nein, das war unmöglich.
Ich traute mich ja so schon kaum aus dem Haus.
Ins Freibad konnte ich wirklich nicht gehen, bei aller Liebe, aber nein. Nikki würde warten müssen. Die anderen konnten ja noch ein weiteres Treffen organisieren, war ja kein Problem. Wir könnten ins Kino gehen. Da war es so schön dunkel, niemand sah einen und - das vor allem - man hatte etwas mehr als nur einen Bikini an.
Tja, Margot hielt von der Idee leider nicht allzu viel. "Aber Elinor", meinte sie eindringlich am Telefon. "Du musst mitkommen! Wer weiß, ob wir Nikki noch ein weiteres Mal überredet kriegen. Bitte, Ellie!" Ich konnte mir beinahe vorstellen, wie sie bei sich zu Hause verzweifelt auf ihrer Unterlippe herum kaute und nervös von einem Fuß auf den anderen trat. Doch ich blieb standhaft.
Gefühlt zwei Sekunden nachdem ich aufgelegt hatte, klingelte unser Telefon erneut. Stirnrunzelnd nahm ich ab: "Was gibt's denn noch, Margot? Ich habe meine Entscheidung getroffen, du kannst mich nicht umstimmen, vergiss es!"
Aber es war gar nicht Margots energische Stimme, die daraufhin durch den Hörer schallte. Es war Victorias. Ich musste ein Stöhnen unterdücken, während Vicky anfing, mir ohne Punkt und Komma aufzuzählen, wieso ich unbedingt mitkommen musste und warum sie keine Widerrede dulden würde. "Ich kann nicht", presste ich hervor. "Ich kann keinen Bikini tragen. Bitte versteht das doch."
Völlig ausgelaugt legte ich erneut auf und ließ mich auf das Sofa fallen. Bevor ich jedoch mein Buch wieder zur Hand nehmen oder überhaupt irgendetwas tun konnte, erschien ein weiterer Name auf dem Display.
Ein Name, der mich wirklich zur Verzweiflung brachte.
Einen kurzen Augenblick spielte ich mit dem Gedanken, es einfach klingeln zu lassen. Doch das wäre naiv, denn ich wusste, dass sie nicht aufgeben würde, denn sie wurde nicht gerne ignoriert, wahrscheinlich würde sie sogar innerhalb von einer halben Stunde bei uns vor der Tür aufkreuzen.
So atmete ich einmal ganz tief durch und drückte auf den grünen Hörer.
"Hallo, Yoko", sagte ich müde und stützte meinen Kopf auf meinem Handrücken auf. Yoko hingegen sparte sich die umständliche Mühe, die eine freundliche Begrüßung gemacht hätte, und kam sogleich zur Sache: "Du kommst mit."
Es war ziemlich fies von Margot, sich an Yoko zu wenden, auch wenn sie nur das Beste wollte. Gegen Yoko konnte man keine Diskussion gewinnen, sie war unermüdlich und würde nicht aufgeben. So war sie halt. Der Grauen eines jeden Lehrers. Ihr späterer Ehemann tat mir jetzt schon Leid, "Ja, Schatz!" würde vermutlich sein Standardsatz werden.
"Bitte hör mir zu", bat ich sie und war so überrascht, dass sie meiner Aufforderung tatsächlich folgte und daraufhin nur noch ihr gleichmäßiger Atem zu hören war, dass ich kurz ganz vergaß weiterzusprechen. "Ich würde ja gerne mit ins Freibad kommen, aber ich will - nein, ich kann - keinen Bikini tragen. Das geht nicht. Das - das - nein!"
Weiter nur gleichmäßiger Atem am anderen Ende des Hörers.
"Allein der Gedanke, mich so gut wie nackt an einen öffentlichen Platz zu stellen, all die Blicke auf meinen Körper gerichtet - nein! Einfach nur nein. Sorry, Yoko", meinte ich, weil sie noch immer schwieg.
Gleichmäßiger Atem.
"Du verstehst das nicht", setzte ich noch trotzig nach. "Du kannst das einfach nicht verstehen."
Endlich ergriff Yoko das Wort. "Weißt du, Elinor", fing sie für ihre Verhältnisse außerordentlich entspannt an, "ich habe dich ja immer für deine Klugheit bewundert. In Mathe bist du für mich ein Genie, und auch sonst nicht gerade auf den Kopf gefallen . . ."
Verwirrt wartete ich ab, was nun kommen würde. "Aber manchmal, weißt, du, manchmal, liebe Elinor, bist du ziemlich doof!", warf sie mir an den Kopf. Ganz verdutzt blieb ich still, wartete auf nähere Erläuterungen dieser Aussage.
Die kamen auch.
Und wie die kamen.
In ihrem gewohnten Sprechtempo feuerte Yoko all ihre Argumente wie eine menschliche Kanone heraus: "Mensch, Ellie, du musst doch keinen Bikini tragen! Ernsthaft, denk doch mal nach! Es geht morgen Nachmittag doch nur um Nikki und dich, ihr sollt euer beknacktes Problem in den Griff kriegen und euch zusammenreißen, damit sie dir nicht länger aus dem Weg gehen kann. Es ist mir - und den anderen auch - scheißegal, was du trägst. Meinetwegen kannst du auch in Winterjacke und mit Skiausrüstung angetanzt kommen! I don't care! Jetzt nochmal langsam zum Mitschreiben für dich: Du. Sollst. Keinen. Bikini. Tragen. Du sollst da morgen einfach nur aufkreuzen. Pünktlich, wenn ich doch bitten darf!"
Als sie ihr Verbalfeuerwerk schließlich beendet hatte, kam ich mir einfach nur unheimlich dumm vor.
"Ähm", machte ich. "Na gut. Einverstanden. Bis morgen. Und, Yoko - danke . . ."
"Kein Ding", gab sie ruppig zurück.
Als ich aufgelegt hatte, konnte ich mir ein kleines Kichern nicht verkneifen.
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Victim
Teen Fiction»Ich wünschte, er hätte mich getötet. Es wäre besser, tot zu sein. Alles war besser als das hier. Diese ständigen Flashbacks. Die an mir nagenden Erinnerungslücken. Der Schmutz unter meiner Haut. Der unerträgliche Scham. Die grauenhaften Alpträume...