Als ich zurück an den Tisch kehrte, war unser Essen bereits gebracht worden. Valerie spielte nervös mit ihrem Besteck und ließ Messer und Gabel aneinander klappern.
Ich ignorierte die Männer am Nebentisch und setzte mich peinlich berührt auf meinen Platz. Wissbegierig beugte meine Schwester sich vor: "Geht's dir gut? Du bist so bleich!"
Mit einer Mischung aus Nicken und Kopfschütteln antwortete ich: "Alles bestens."
Alles bestens? Ja, sicher.
Auch Valerie schien nicht wirklich überzeugt zu sein, hakte jedoch nicht weiter nach und wünschte mir lediglich einen guten Appetit.
Das Gericht schmeckte gar nicht so schlecht. Besser als Yak-Magen oder Schafslunge war es auf jeden Fall.
Während wir aßen, sagten wir nicht viel. Wir schaufelten alles in uns hinein, stopften uns die Mäuler voll. Ich musste dauernd einstecken, all den Scham und den Schmerz wegen der dummen Sprüche und Lügen fraß ich in mich hinein. Pausenlos. Genau wie jetzt beim Essen nahm ich alles still hin, gab mwinen Kommentar nicht ab, weil ihn ja sowieso niemand hören wollte.
Am Ende bezahlte Valerie den Kellner. Ich wusste nicht, ob es nun am großzügigen Trinkgeld lag, aber er schien noch immer ganz angetan von meiner Schwester zu sein.
"Hat es dir geschmeckt?", erkundigte sie sich, während sie mir fürsorglich die Jacke um die Schultern legte. "Ja, sehr gut, danke", murmelte ich und schlüpfte in die Ärmel meiner dünnen Regenjacke.
Valerie ging vor mir hinaus, allerdings nicht ohne dem Kellner noch ein letztes, strahlendes Lächeln zu schenken. Ich unterließ es sie darüber zu unterrichten, dass er seine Telefonnummer auf die Rechnung geschrieben hatte. Wenn sie das selber nicht merkte, konnte ich ihr auch nicht helfen.
Mein Blick fiel auf Valeries dünne Beine, die in der Dunkelheit vor mir her liefen und ihren leichten Körper durch die Nacht trugen. Bevor ich auf meine Uhr schauen und überhaupt darasn denken konnte, Mama und Papa zu fragen, hatte meine Schwester uns ein Taxi gerufen. Während der Fahrt traute ich mich nicht, den Fahrer zu bitten, das Fenster zu schließen. Die kühle, flatternde Luft sorgte für Durchzug. Mama hatte solche Situationen immer sorgsam verhindern wollen, aus Angst, wir könnten uns erkälten.
Das Taxi fuhr uns direkt bis vor Valeries Tür. Einen Anflug von Neid konnte ich nicht unterdrücken, als der riesige rote Altbau vor uns auftauchte. Staunend legte ich den Kopf in den Nacken, um die ganze Fassade zu betrachten. Um ehrlich zu sein war ich noch nie in Valeries neuer Wohnung gewesen.
"Komm", meinte sie und steckte den Schlüssel in das alte Schloss. Mit einem Ruck öffnete sie die knarrende Haustür. "Wir müssen in den dritten Stock." In Sekundenschnelle war ich wieder in meiner Rolle als leidenschaftliche Läuferin und meisterte die Aufgabe mit einer kontrollierten Atmung und ausdauernden Schnelligkeit.
Valerie wunderte sich wohl, dass ich aus dem Treppensteigen gleich einen Wettlauf machen musste. Aber das Laufen fehlte mir.
Als wir endlich bei ihrer Wohnung angekommen waren, konnte ich mich vor Neugierde kaum noch halten und musste mich zusammenreißen, nicht vor ihr durch die Tür zu schlüpfen. Erwartungsvoll und mit einer Portion falscher Geduld blieb ich also im Rahmen stehen. Mein Blick schwenkte einmal durch das ganze Zimmer. Vor mir war ein großer heller Raum. Die Wände waren cremefarben gestrichen, die weißen Ikea-Regale mit all den Büchern kamen mir sofort bekannt vor. Ein großer Esstisch aus Birkenholz stand rechts vor der Küche, die aus einer Theke mit hohen Stühlen bestand. Auf der linken Seite befand sich eine wunderschöne, dunkelgrüne Couch und ein Fernseher. Gegenüber von mir hing neben dem riesigen Fenster ein großes Gemälde.
Mir gefiel Valeries Einrichtung ausgesprochen gut. Von Kunst und Dekoration hatte ich zwar jeine Ahnung, doch ich gühlte mich wohl hier.
"Wo schläfst du?", wollte ich fast schüchtern wissen.
Valerie führte mich an der Couch vorbei, wo wir vor zwei Türen standen. "Hier ist mein Zimmer", meinte sie und stieß die rechte Tür auf. "Und hier ist das Gästezimmer."
Ach ja. Das Gästezimmer. Vor wenigen Monaten, als Valerie erst neu in diese Wohnung gezogen war, hatte Mama häufig bei ihr übernachtet. Mit der faden Begründung, dass sie Vali helfen wollte, mit ihrem neuen Leben klar zu kommen, hatte sie sich drei Wochen am Stück nicht bei Papa und mir blicken lassen. Doch Vali war nicht das Problem gewesen. Nein. An Mama hatte es gelegen. Sie hatte sich nicht von ihrer ältesten Tochter trennen können, hatte nicht eingesehen, dass das kleine zwitschernde Vögelchen irgendwann das vertraute Nest verlassen musste, um die große weite Welt zu erkunden. Sie hatte während all ihren vergeblichen Bemühungen, sich noch etwas weiter an Valerie zu klammern, komplett verdrängt, dass sie auch noch eine zweite Tochter hatte. Eine jüngere, die sie viel dringender brauchte als die ältere. Papa hatte schließlich ein ernstes Gespräch mit ihr führen und sie im Anschluss beinahe nach Hause zwingen müssen.
"Schön", presste ich hervor, in Gedanken noch bei der bitteren Erinnerung.
Valerie schien nichts zu bemerken. Mit gemächlicher Gemütlichkeit schlenderte sie zurück ins Wohnzimmer und schnappte sich Yokos Keksdose von der Theke, die ich vorhin dort abgestellt hatte.
Mir war etwas unbehaglich zumute, als ich verklemmt und mit verschränkten Beinen in der Mitte des Raums stehen blieb. Eigentlich müsste ich nach Hause. Mama war bestimmt schon verrückt vor Sorge. Allerdings sträubte sich alles in mir dagegen, Valerie jetzt zu verlassen und zu unseren Eltern nach Pankow zurück zu kehren.
"Ähm", machte ich verlegen.
"Musst du mal auf die Toilette?", erkundigte Valerie sich unbekümmert und entkorkte eine Sektflasche. "Das Bad ist rechts den Gang runter, gleich neben der großen Topfpflanze."
Ich entschloss mich vorerst still zu bleiben und ließ mich mit einem lauten Plumpsen auf die grüne Couch fallen. Mit einer sanften Bewegung strich ich behutsam über den feinen Stoff. Es fühlte sich angenehm unter meinen Fingerspitzen an, angenehm und vornehm. So vornehm, dass ich mich kaum traute, mich bequem hinzusetzen.
Steif und aufrecht wartete ich also auf Valerie, die schließlich unbeschwert mit der Hüfte schwenkend bei mir ankam, zwei Sektgläser und die Kekse auf einem Teller in der Hand.
"Danke", murmelte ich und biss von der schokoladigen Masse ab. Yokos Cookies schmeckten einfach so vertraut und gewohnt gut, dass es mir fast die Tränen in die Augen trieb. "Möchtest du auch?", fragte ich und hielt ihr den überfüllten Teller hin.
"Oh, nein danke!", meinte Valerie rasch und winkte mit der Hand ab. "Ich bin noch total satt vom Abendbrot, Tibetisch ist einfach zu lecker. Iss du mal ruhig."
Schweigend knabberte ich an einem zweiten Cookie und pickte mir zuerst die flüssigen Schokostückchen mit den Zähnen heraus. Vor Mamas Augen wären solche Essmanieren völlig undenkbar gewesen, aber Valerie sagte nichts dazu.
Gedankenversunken starrte ich vor mich hin. "Willst du nicht doch mit mir darüber reden, was heute bei eurem Treffen passiert ist?", fing Vali fragend an. Aufmerksam sah sie mich an, bis ich schließlich zögernd nickte.
Ich schluckte und legte den Keks beiseite.
"Weißt du was? Ich mache uns mal etwas Licht, und dann erzählst du mir alles, was du willst!", sagte Vali. Sie schien voller Hoffung und Elan zu sein, als sie aufsprang und mit einem Feuerzeug wiederkam. Mit der Zunge zwischen den Zähnen zündete sie konzentriert die große, edle Kerze auf dem kleinen Wohnzimmertisch an.
Züngelnde Flammen, die einen Kreis um das Handgelenk schlossen und zur oberen Armhälfte ausgerichtet waren . . .
Mein Atem ging schneller. Ich realisierte kaum, dass Valerie sich besorgt musternd vorbegeugt hatte, die halbvolle Sektflasche schon zum Nachfüllen in der Hand. Halbvoll. Halbleer.
Eine rötlich-orange Färbung füllte das Tattoo am rechten Handgelenk aus . . .
Schwer atmend fasste ich mir an den Kopf und vergrub meine Hand nach Halt suchend in meinem Haar. Mein Schädel dröhnte und ich merkte, wie alles um mich herum schwarz wurde.
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Victim
Teen Fiction»Ich wünschte, er hätte mich getötet. Es wäre besser, tot zu sein. Alles war besser als das hier. Diese ständigen Flashbacks. Die an mir nagenden Erinnerungslücken. Der Schmutz unter meiner Haut. Der unerträgliche Scham. Die grauenhaften Alpträume...