"Und du hast diese Nachrichten alle gelesen?", fragte Margot und sah mich geschockt an.
Ich konnte nur nicken, unfähig etwas zu sagen. Der Kloß in meinem Hals war zu groß und drohte bei der kleinsten Silbe loszubrechen wie ein Wasserfall. Das musste ich um jeden Preis verhindern.
Schon immer hatte ich es verabscheut, vor anderen Menschen zu weinen. Egal wie gut ich sie kannte, egal wie gut der Grund war.
Ich glaube, wahre Trauer zeigt sich, wenn es niemand sieht.
Mit einem energischen Kopfschütteln legte sie mein Handy beiseite. "Mensch, Ellie!", brach es aus meiner besten Freundin hervor, die nun selber mit den Tränen zu ringen schien. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde sie mich umarmen wollen. Ich war dankbar, als sie es sich anders überlegte und stattdessen mit den Fingern über ihre eigenen Arme strich, auf denen sich eine leichte Gänsehaut gebildet hatte.
Dabei war es nicht mal kalt.
Im Gegenteil.
Es war ein warmer Donnerstag, an dem die Sonne uns auf die Köpfe schien und alles in ein helles, strahlendes Licht tauchte. Die Kälte in meinem Herzen konnte sie jedoch nicht vertreiben.
Margot und ich hockten in ihrem Hasenkäfig im grünen, saftigen Gras und erzählten. Ihren Vorschlag, noch mehr unserer Freunde dazu zu holen, hatte ich konsequent abgelehnt. Seit dem Desaster vor dem Kino letztes Mal hatte ich von großen, neugierigen Menschenmassen eindeutig die Nase voll.
Nur Nikki hätte ich gerne hier gehabt. Leider hatte ihr die Zeit gefehlt, wie Margot mir am Telefon heute Vormittag mitgeteilt hatte. Etwas enttäuscht war ich schon gewesen, um ehrlich zu sein. Doch ändern konnte ich daran auch nichts, Nikki war eben wie sie war. Und gerade deshalb liebte ich sie ja so sehr.
"Warum?", wollte Margot wissen. Ein ernster Ausdruck lag in ihren blauen Augen.
"Hm?", machte ich, nicht wissend, was sie meinte. Warum mir all diese Leute solche unverschämten Dinge an den Kopf warfen? Keine Ahnung. Den Grund kannte ich leider auch nicht.
Vielleicht war es bloße Dummheit.
Oder der Wunsch nach Aufmerksamkeit.
Die unzufriedene Wut über das eigene, miese Leben.
Ich wusste es nicht, doch die Frage nagte an mir und ließ mich seit Tagen nicht los.
"Warum hast du all das gelesen?", hakte Margot nach und biss sich verzweifelt auf die Lippe. Verblüfft sah ich sie an. "Das muss doch grauenvoll für dich sein! Wieso tust du dir das an, Elinor? Das hast du doch gar nicht nötig."
Irgendwie stimmten mich Margots Worte nachdenklich. Ich musste schwer schlucken und wischte mir unauffällig über die Augen. Doch Margot kannte mich gut. Zu gut.
Anders als bei Valerie verstand sie mich, Margot konnte in mir lesen wie in einem Buch. Das war manchmal ziemlich ätzend, doch heute stimmte es mich dankbar.
Eigentlich war es fast traurig, dass meine beste Freundin mich besser kannte als meine eigene Schwester. Aber immerhin war ich ja jetzt auf dem besten Weg, alles nachzuholen und Vali wirklich kennenzulernen.
"Hast ja Recht", schniefte ich. Margot ergriff meine Hand und drückte sie.
Zwei Mal kurz. Ein Mal lang.
Wie in Kindertagen, wenn wir händchenhalten die Standpauken unserer Mütter hatten ertragen müssen oder gezwungen worden waren, bei Valeries Balettauftritten anwesend zu sein.
Heute ließ ich es wieder zu. Ein winziges Lächeln erschien auf meinem verweinten Gesicht.
Margot biss sich auf die rosige Lippe, was mir erneut ein Schmunzeln entlockte. Das hatte sie früher schon immer gemacht. Etwas ungelenk beugte sie sich nach hinten und schnappte sich eines der vielen Kaninchen, die hier umher hoppelten.
Alte Opas hatten Hunde.
Alte Omas hatten Katzen.
Margots Familie besaß unwahrscheinliche viele Häschen. Ihre Großmutter hatte ursprünglich Hasen gezüchtet, verkauft und geschlachtet, doch seit Margot auf der Welt war, geschah nichts dergleichen mehr: Die Häschen hoppelten einfach nur durch den riesigen Käfig, der sich im Freien befand und auf dem sie anstatt eines Rasenmähers das ganze Gras futtern konnten.
Yoko bezeichnete das Haus von Margots Familie gerne als Gnadenhaus für Kaninchen, was ziemlich treffend war.
"Guck mal", meinte Margot in diesem Augenblick und hob sachte die Pfötchen des Hasen an. Fürsorglich ließ sie ihren Kennerblick über das schwarze Fell des dicken Tiers wandern. "Darf ich vorstellen? Elinor, das ist Schnute."
Bitte was?
Och nö.
Margot war immer unglaublich kreativ, was die Namensgebung ihrer Lieblinge betraf. "Wir haben sie vom Schlachter in Pankow, nur ein paar Straßen weiter. Er sagt, sie hat nicht genug Fleisch an sich, um geschlachtet zu werden, das würde sich nicht lohnen. Deshalb haben wir Schnute bekommen. Ist das nicht großartig?", freute sie sich und beugte ihre Nase vor, um sie an den Kopf des Hasen zu halten.
Dieser Hase? Nicht genug Fleisch? Schwer vorstellbar. Nun gut, ich hatte ja auch keine Ahnung. Margot war seit über fünf Jahren Vegetarierin, aus den gleichen Gründen wie Nikki Veganerin war.
Victoria sagte oft spaßhaft, Margot hätte ein zu weiches Herz.
Ich gab daraufhin immer ernst zurück, Margot hätte einfach ein gutes Herz.
"Sehr süß", bemerkte ich und musste mir das Lachen verkneifen. "Wie geht es Elizabeth?", erkundigte ich mich und zupfte einen Grashalm ab. Elizabeth und Mr Darcy waren Margots erste eigene Hasen gewesen, benannt nach den Hauptcharakteren aus "Stolz und Vorurteil". Ich hatte es längst aufgegeben, meine beste Freundin davon zu überzeugen, dass normale Namen wie "Hoppel" oder "Mümmel" auch ausgereicht hätten. Vor kurzem war Elizabeth trächtig geworden von Mr Darcy - zumindest hoffte ich, dass sie genug Anstand hatte, um nicht fremd zu gehen.
"Fantastisch!", strahlte Margot und griff erneut nach einem Hasen, dieses Mal hatte sie einen der Kleinen erwischt. "Sie hat fünf gesunde Junge geboren. Das hier ist Zeus. Na, mein Kleiner, du bist aber auch putzig, nicht wahr?", quietschte sie und knuddelte den kleinen.
Ich schloss meine Augen, konnte aber nicht anders, als zu lächeln.
"Lass mich raten", sagte ich kopfschütteln. "Seine Geschwister heißen Hades und Poseidon?"
Margot sah entsetzt hoch: "Wie bitte? Nein! Als ob ich so einen süßen Hasen nach dem Gott der Unterwelt bennenen würde! Ich bitte dich, Ellie! Nein, um Himmels Willen. Seine Schwestern heißen natürlich Athene, Aphrodite und Artemis, sein Bruder ist Poseidon. Ist doch klar."
Stimmt ja. Wie hatte ich nur so blöd sein können?
Kurzerhand drückte Margot mir den kleinen Zeus in die Hand. Er hatte ein cremefarbenes Fell mit braunen, schwarzen und weißen Flecken. Seinen Kopf hob er immer so süß an und wollte unbedingt über meine Schulter gucken. Neugierig, der Kleine.
Obwohl ich Margots grenzenloser Liebe zu Hasen nicht viel abgewinnen konnte, musste ich zugeben, dass Zeus echt knuffig war. Sanft strich ich über seine große Nase.
"Er wird größer werden als seine Geschwister", stellte Margot leise fest und begutachtete lächelnd Zeus' lange Ohren.
"Lange Löffel?", fragte ich und sie nickte. Nicht ganz freiwillig hatte ich über die vielen Jahre, die ich mit Margot befreundet war, einiges über Kaninchen gelernt.
"Und Morgen ziehst du also um, ja?", erkundigte Margot sich und bemühte sich erfolglos, nicht allzu besorgt auszusehen. Ich antwortete mit einem kräftigen Nicken, den zarten Zeus weiter fest an mich gedrückt.
Wenn jetzt nur nichts mehr dazwischen kam . . .
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Victim
Teen Fiction»Ich wünschte, er hätte mich getötet. Es wäre besser, tot zu sein. Alles war besser als das hier. Diese ständigen Flashbacks. Die an mir nagenden Erinnerungslücken. Der Schmutz unter meiner Haut. Der unerträgliche Scham. Die grauenhaften Alpträume...