Lyjana spürte, wie einige ärztliche Helfer sich um sie scharrten und sie untersuchen wollten, doch sie hatte nur Augen für die eben verschwundene Person. Geistesabwesend starrte sie die Tür an. Warum hatte er das getan? Sie dachte, sie hätte ihn verstanden, aber diese Aktion von ihm bewies ihr mal wieder das Gegenteil. Und aus irgendeinem Grund machte sie das unglaublich traurig. „Lyjana", fuchtelte irgendjemand ihr mit einer Hand vor dem Gesicht herum, „können sie mir antworten?" Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte noch nicht einmal mitbekommen, dass jemand sie angesprochen hatte, geschweige, dass jemand ihr eine Frage gestellt hatte. Sie musste sich wirklich zusammen reißen. „Nein, tut mir leid", antwortete sie nun ganz kultiviert und versuchte eine gute Miene zu dem mehr als bösen Spiel aufzusetzen. Wo brachte man Erik jetzt hin? Würde sie ihn überhaupt noch einmal wiedersehen? Diese blöde Richterin. Würde sie nicht so komische Fragen stellen, wäre alles gut, aber nein, sie musste nerven- so wie sie alle hier nervten, genauso wie ihre eigene Mutter und das machte sie noch trauriger.
Sie fühlte sich alleine, gab es hier doch niemanden, der sie verstand. Nur Erik wusste immer genau wie es ihr ging und die beiden machten auch unglaubliche Fortschritte miteinander- nicht nur heute, auch in der Vergangenheit war dies der Fall gewesen. So hatte sie sich nach einer guten Woche die Kleidung verdient gehabt. Er lernte ihr fast täglich das Tanzen und um ihre Fitness zu verbessern, joggte er mit ihr. Sie hatte zwar immer eine Leine am Handgelenk, doch das störte sie wenig. Sie konnte sich in dieser wunderschönen, idyllischen Gegend bewegen, die wirklich ein Paradies gewesen wäre, wenn die Umstände nicht so grauenhaft sein würden. Die frische Luft und das Sonnenlicht taten ihr unglaublich gut. Tagsüber hatte sie schon fast ein unbeschwertes Leben, wohingegen sie nachts noch immer missbraucht wurde. Oft schlug und folterte er sie nur so zum Spaß, ohne, dass sie irgendetwas getan hatte, was ihn hätte verärgern können. So lernte sie bei jeder kleinesten Bewegung seinerseits zusammen zu zucken. Ihre Instinkte waren in dieser Zeit immer in Alarmbereitschaft. Vielleicht hatte sie deswegen geschafft zu fliehen. Es war wie ein Katz und Maus Spiel gewesen. Jeder von ihnen wartete auf einen Fehler des anderen. Dieses Spiel trieben sie schon seit mehr als einem Vierteljahr.
„Lyjana", riss man sie schon wieder aus ihrer Gedankenwelt. Eine Frau, die sie nicht kannte, kniete vor ihr, da sie noch immer am Boden lag. Sie spürte, wie bereits einige Stellen in ihrem Gesicht und an ihrem Körper anschwollen und sich blaue Flecken bildeten. Aber sie wusste gleichzeitig, dass es keine bleibenden Verletzungen waren, hatte sie doch den prüfenden Blick ihres Freundes gesehen, der sie mit den Fachkenntnissen von einem der besten Ärzte der Welt gemustert hatte. „Lyjana", wiederholte die Frau vor ihr sich. Fragend hob sie eine Augenbraue: „Was kann ich für sie tun?" Die Frau lachte. Dann schüttelte sie sanft den Kopf. „Nein, das ist anders gemeint. Ich möchte ihnen helfen. Ich bin Psychologin...", setzte die Frau erklärend an, doch Lyjana unterbrach sie sofort. „Ich brauche keine Psychologin.", fauchte diese fast. „Ich weiß...", begann die Frau erneut. „Sie wissen nichts", zischte Lyjana jetzt, „wissen sie, einige Leute wollen sich nicht helfen lassen. Ich gehöre dazu." „Das glaube ich nicht", gestand ihr die Frau. Lyjana seufzte erschöpft. Sie begann schon so wie Erik, die Leute um sich herum zu hassen und verstand ihn in diesem Moment besser denn je. Diese Menschen versuchten zu helfen, das wusste sie, doch wie sollten sie dies können, kannten sie doch gar nicht die ganze Geschichte. Und welcher Mensch erzählte freiwillig von drei Jahren höchster und brutalster Folter. Die Antwort war einfach- keiner.
„Lyjana", begann diese nervige Psychologin schon wieder. Am liebsten wäre sie einfach davongelaufen, doch dann wäre Eriks ganzer Aufwand hinfällig und sie würde nur wieder alles kaputt machen. Obwohl Flucht eine so gute Option schien. Genau wie damals...wenn sie die Augen schloss, dann sah sie sich wieder dort an dem See. Es war mittlerweile etwas mehr als ein Vierteljahr vergangen und sie war erstaunlicher Weise zu einer extrem guten Tänzerin geworden. Erik hatte natürlich wie immer etwas zu meckern, doch an diesem Tag schien er nicht wirklich bei der Sache zu sein. Er bemerkte kaum ihre Fehler und war auch sonst recht fahrig. Eine Tatsache, die sie von ihm ganz und gar nicht gewohnt war. Es war ein recht regnerischer Herbsttag. Die Sonne wollte gar nicht so recht scheinen und schon seit Wochen sah es nach Gewitter und Regen aus. Doch sie hatten fast immer Glück gehabt. Das große Unwetter war meistens an ihnen vorbeigezogen. Aber heute schien der Himmel seine Pforten öffnen zu wollen und alles versäumte der letzten Tage wieder wettmachen, denn es schüttete schon seit Stunden, wie aus Gieskübeln. Trotzdem bestand Erik darauf, ihre täglichen Übungsstunden abzuhalten und da Lyjana wusste, dass Protest sinnlos war, trainierten sie nun schon seit zwei Stunden im strömenden Regen. Um sie herum tobte ein Sturm und immer wieder musste sie beobachten wie ein Blitz in das Wasser des nahegelegenen Sees eintauchte. Dies schien eine ungemütliche Nacht zu werden.
Und dann kam ihr Moment...der schönste und beste Moment der Flucht, denn ein Blitz schlug in unmittelbarere Nähe ein. Es folgte ein heftiges Donnergrollen. Eigentlich wollte sie in diesem Moment nichts lieber, als sich in seine Arme zu werfen, aber dies war ihr nicht erlaubt. Sie fühlte nichts mehr, denn sie gehörte ihm.
Doch dann ging das Licht im gesamten Haus aus und Erik rannte hinein, ohne noch einen Gedanken an Lyjana zu verschwenden. Und auch sie rannte los, doch nicht ihm hinterher, sondern in genau die entgegensetzte Richtung- nämlich in den Wald. Blindlings lief sie so schnell sie ihre Beine tragen konnten, stolperte einige Male, da der Boden sehr rutschig war, doch sie wurde nicht langsamer. Das ständige Joggen im Wald machte sich nun bezahlt. Aber bereits nach einigen Minuten hörte sie seine Stimme durch den Wald peitschen, konnte jedoch wegen des starken Regens nicht genau sagen, wie weit entfernte sie war. Deswegen rannte sie weiter, immer weiter. Sie durfte nur nicht stehen bleiben. Das würde ihren Tod bedeuten.
Durch das Gewitter hatte sie jedoch den Nachteil, dass sie keinerlei Orientierung hatte. Sie lief planlos durch die dunklen Wälder und der Regen durchnässte ihre Kleidung. Lyjana hätte sich nicht einmal mehr gewundert wenn sie gleich das Haus wieder sehen würde, weil sie im Kreis gerannt war. Donner hallte laut in den Wäldern wieder und ein Blitz erhellte vor ihr eine kleine lichte Stelle. War dort eine Lichtung? Hastig taumelte sie auf das lichte Stück zu und erblickte einen kleinen Wanderparkplatz. Konnte es sein? Ein kleines verdelltes Auto stand auf dem matschigen Parkplatz. Die ersehnte Rettung schien so nah, doch dann fiel ihr ein, dass sie weder das Autofahren oder gar das Auto knacken konnte. Vielleicht würde aber noch jemand vorbeikommen? Ihr Mut sank wieder. Wie sollte sie jemals aus diesem verfluchten Wald kommen? Es war ihr, als würde sie Eriks Atmen bereits im Nacken spüren.
„Entschuldigung, haben sie sich verlaufen?", fragte eine freundliche Stimme direkt hinter ihr. Sie fuhr zusammen und hätte am liebsten angefangen zu schreien, aber sie konnte sich gerade noch rechtzeitig davon abhalten - diese Stimme gehörte nicht zu Erik sie war nicht so melodisch wie seine. Langsam drehte sie sich zu der Stimme und blickte dabei in zwei sympathische Gesichter junger Menschen. Ihre Klamotten waren Schlamm verspritzt und einer hielt ein eingepacktes Zelt im Arm. "Alles in Ordnung?" Der Blick des ersten Mannes wanderte über ihre durch die Schläge verfärbte Haut. Aber in ihrem Kopf raste nur ein Gedanke: Endlich...sie war in Sicherheit...sie hatte es geschafft.
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Sag es!
HorrorWenn der Tod einem begegnet können die meisten Menschen nicht mehr entfliehen, doch für Lyjana Hathaway ist der Tod nicht das Ende - nein. Der Tod will sie und er spielt ein grausames Spiel mit ihr in dem nicht nur ihr Leben der Einsatz ist, jede S...