„Bitte, setzten Sie sich doch", führte eine freundlich wirkende Polizistin Lyjana zu einer gemütlich aussehenden Sitzgruppe. In einem Halbkreis waren hier einige, mit schwarzem Leder gepolsterten Sessel aufgestellt. Auf einen von ihnen setzte sich Lyjana jetzt. „Wir holen Sie dann gleich ab", kam noch die höfliche Information der jungen Polizistin, bevor diese sich abwandte und ging. Lyjana selbst hätte sich noch gerne bei der Frau bedankt, doch dazu kam sie nicht mehr. Sie wusste generell nicht wirklich, was sie von der Situation halten sollte, weswegen sie auch schon seit Wochen extreme Stimmungsschwankungen hatte. Sie konnte nur froh sein, dass ihre Kollegen im Balett de l'Opéra de Paris sie und ihre Geschichte kannten und deswegen nicht sauer auf sie waren, sondern sie mit Rat und Tat unterstützten.
Ja, sie hatte es tatsächlich geschafft. Sie hatte sich ihren Traum vom Tanzen wirklich erfüllt und war nun erste Solisten in diesem Ensemble. „Danke", murmelte sie vor sich hin, denn dies verdankte sie nur einem gewissen jungen Mann. Einem Mann, dem sie eigentlich alles verdankte, was sie jetzt war und das machte ihr Angst. „Wofür dankst du?", fragte sie eine ruhige Stimme direkt vor ihr. Sie schreckte hoch, war so in ihre Gedanken vertieft gewesen, dass sie ihn nicht bemerkt hatte und schaute so direkt in smaragdgrüne Augen. „Gute Morgen, Lyjana", begrüßte sie nun der Typ vor ihr. Unwillkürlich stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Nur er sprach ihren Namen so markant aus. Sie wollte zurückgrüßen, sich in seine Arme werfen und ihn nie wieder loslassen, doch in diesem Moment kamen zwei Polizisten angerannt, packten ihn links und rechts am Oberarm und zerrten ihn weg von ihr. Aber anstatt erbost oder gar zornig über diese Geste zu sein, lächelte nun auch er, schaute ihr dabei die ganze Zeit in die Augen. „Hör auf so zu grinsen, Erik", rief ihm Lyjana hinterher, wobei diese Bitte nur das Gegenteil bei ihm bewirkte. Wie sehr hatte er doch ihre Stimme vermisst, dessen wurde er sich jetzt erst bewusst.
Aber sie sah gut aus, in ihren schwarzen Jeans, der weißen Bluse und dem schwarzen Blazer darüber sah sie fast so aus, wie die Businessfrau, in die sich einst sein Vater verliebt hatte. Bei diesen Gedanken lief ihm noch immer eine Gänsehaut über den Rücken und er hatte das Gefühl, in dem Gebäude sei es schlagartig um einige Grad kühler geworden, obwohl er wusste, dass diese Kälte nur in seinem Herzen bestand.
Er wurde in den Gerichtssaal geführt und kurz darauf ging einer der Polizisten los, um Lyjana zu holen. Dabei starrte Erik dieser die ganze Zeit hinterher. Wenn sie sie auf irgendeine Weise verletzen würde, er könnte für nichts mehr garantieren. Er hatte bereits drei Morde begangen, vor einem vierten würde er nicht zurückschrecken.
Während Erik solche Gedanken hegte, wurde Lyjana wieder von der Vergangenheit eingeholt. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge dachte sie an den Tag zurück, der ihr Leben für immer verändern sollte.
Es war ihr 15. Geburtstag. Geo Catching war gerade voll in Mode gekommen und sie wollte es unbedingt mit ein paar Freunden ausprobieren. So waren sie bei schönsten Wetter in den Wald gefahren, ihre Eltern hatten eine Grillhütte gebucht und der Tag versprach wirklich spaßig zu werden. Am Abend sollte noch gegrillt werden und zwar an einem richtigen Lagerfeuer. Drauf freute sich Lyjana ganz besonders. Sie waren zwar zu viele, um in einer großen Gruppe zusammenzubleiben, deswegen teilte sie sich in drei Gruppen auf. Lyjana selbst kannte sich gut in dem Wald aus, da sie schon oft mit ihren Eltern hier gewesen war und im Notfall gab es ja noch immer Handys. So waren die Freunde losgezogen, hatten immer mehr „Schätze" gefunden und drangen mit der Zeit immer tiefer in den Wald ein. Doch bei den siebten Koordinaten, bissen sich die Mädels einen Zahn aus. Sie suchten fast eine halbe Stunde, doch dir recht große Box war nirgends zu finden. „Komm Jana, gib es auf", hatte ihre Freundin vorgeschlagen, als ihnen das Navi zum hundertsten Mal sagte, dass ihr Zielobjekt ganz in der Nähe sei. „Nein", war ihre Antwort darauf, „komm, versuchen wir mal hier zu graben." Und da sie das Geburtstagskind war, hatten alle aus ihrer Gruppe in einem Umkreis von fünf Metern angefangen zu graben, bis Lyjana tatsächlich nach einer weiteren Viertelstunde auf etwas Hartes stieß. Voller Freude, dass sie es nun endlich gefunden hatten, buddelte sie umso eifriger, bis eine kleine schwarze Metallbox zum Vorschein kam. Ächzend hatte sie die Box aus dem Boden gehoben und voller Vorfreude aufgeklappt. Das Schloss war zwar schon recht verrostet, doch am Ende hatte sie sie aufbekommen. Doch das was dort drinnen lag, war nicht im Entferntesten das, was sie erwartet hatte und so begann sie ganz unwillkürlich zu schreien.
Ihre Freunde hatten den Laut des Entsetzten natürlich gehört und waren zu ihr gelaufen, hatten jedoch kurz darauf selbst angefangen zu schreien. Eine Hand lag in dem Kasten, eine Menschenhand. Sie war blutleer und bereits grau, da die Totenstarre schon seit langem eingesetzt hatte, doch sie war noch nicht verfault.
Hastig schlugen die Mädchen die Box wieder zu und vergruben sie erneut im Waldboden. Zwar hatten sie kurz überlegt, die Box mitzunehmen und sie Lyjanas Eltern zu geben, doch mit dem Tod wollte keiner von ihnen etwas zu schaffen haben. So waren sie zurück zur Grillhütte gelaufen, hatten sich betont fröhlich gezeigt und bemühten sich nach Kräften diesen schrecklichen Fund bald wieder zu vergessen.
Die meisten ihrer Freunde hatten diesen Fund wirklich schon bald wieder vergessen gehabt, denn die Kindheit war doch die aufregendste Zeit. Ein Highlight jagte dem Nächsten. Da blieb gar keine Zeit sich zu erinnern. Doch Lyjana hatte nicht vergessen. Alpträume plagten sie schon seit Wochen und oft wachte sie schreiend und schweißgebadet am nächsten Morgen auf. Aber ihren Eltern wollte sie nichts davon erzählen, sie wollte alleine stark sein.
Vielleicht war das mein Verhängnis, dachte sie bei sich, als sie den Gerichtssaal betrat. Vielleicht hätte ich ihnen davon erzählen sollen...doch was wäre dann aus mir geworden? Wäre ich dann dort, wo ich jetzt stehe? Sie kannte die Antwort, kannte sie schon bevor ihr die Fragen ins Gedächtnis gekommen waren- Nein.
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Sag es!
HorrorWenn der Tod einem begegnet können die meisten Menschen nicht mehr entfliehen, doch für Lyjana Hathaway ist der Tod nicht das Ende - nein. Der Tod will sie und er spielt ein grausames Spiel mit ihr in dem nicht nur ihr Leben der Einsatz ist, jede S...