Im Saal trat wieder Stille ein. Überall sah man nur geschockte Gesichter. Die einzigen Personen, die sich dabei nichts zu denken schienen, waren Täter und Opfer selbst. Lyjana und Erik sahen sich einfach nur an und dabei konnte man deutlich erkennen, dass zwischen ihnen tausend ungesagte Sachen standen, die jedoch keinen Worten bedurften, sondern auch auf diese Weise geklärt werden konnten. Auch die Richterin schien kurzzeitig ihre Fassung verloren zu haben, denn man konnte glatt den Anschein bekommen, dass sie für einen Augenblick doch tatsächlich ihre Contenance verloren hatte, denn sie starrte Erik mit offenem Mund an. „Was haben Sie da eben gesagt", hakte sie dann noch einmal nach. „Ich sagte", begann Erik ruhig, wurde aber fast sofort durch Lyjana unterbrochen. „Er meinte es nicht so", kam es sanft, aber bestimmt von ihr, „Erik mochte schon immer Hunde. Im Gegensatz dazu war ich für ihn einfach nur Abschaum und Dreck. Ich war für ihn kein Wesen mit einer Seele oder einem Herzen, sondern schon eher eine Sache, die man jederzeit auswechseln und eliminieren konnte, wenn es dazu an der Zeit war. Genauso, wie wenn man Socken oder dergleichen wegschmeißt, wenn sie ein Loch haben, so schmiss er seine Mädchen weg, wenn sie nicht mehr zu gebrauchen waren, für sein Vorhaben. Es gab doch so viele junge unschuldige Mädchen in Hamburg, da machte es das eine mehr oder weniger keinen Unterschied für ihn. Erik war, was diese Sichtweise betrifft kein Mensch mehr, aber was kann man schon anderes erwarten nach dieser Vergangenheit. Doch bis ich das herausfand, war auch ich schon fast kaputt. Viel hätte nicht mehr gefehlt."
Wieder Stille, aber dieses Mal hatte sich die Richterin schneller gefasst. Mit eiskalter Stimme fragte sie: „Sie sprechen andauernd in der Vergangenheit, wenn sie über Mr. Selweigs Verhalten und Charakter sprechen. Denken Sie etwa, dass sich dieser Mensch auch nur um einen Hauch verändert hat?" „Mein ganzes Leben hat sich verändert", blaffte Erik dazwischen, doch Lyjana bat ihn mit einem Handzeichen zu schweigen. Zur Überraschung aller tat er dies unverzüglich, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und ließ die junge Frau sprechen.
„Vielleicht sollte ich diese ganze Geschichte von vorne aufrollen und nicht mittendrin anfangen.", versuchte sich Lyjana zu erklären, „am besten ich mache dort weiter, wo Erik eben aufgehört hat; nur ein paar Wochen später." Die Richterin nickte und zeigte damit ihr Einverständnis. „Nun ja...die Wochen vergingen. Obwohl ich erst jetzt sagen kann, dass es Wochen waren. Manchmal kam es mir wie Sekunden vor, manchmal wie Jahre, bis Erik wiederkam. Mein körperlicher, seelischer und psychischer Zustand verbesserte sich nicht gerade, doch ich lebte noch. Wie er es eben so schön formuliert hatte, musste er mich zu erst einmal erziehen. Das hieß für ihn, absolute Kontrolle über mich und mein Handeln und absoluter Gehorsam von mir. Ein Hund wäre sicher leichter zu erziehen gewesen, denn er wollte, dass ich willenlos wurde. Für ein Mädchen meines Alters und mit meinen Charakterzügen war das äußerst schwer, denn sie müssen wissen, dass ich früher zu einem der beliebtesten Mädchen meiner Klasse gezählt hatte und immer quirlig und aktiv war. Jetzt sollte ich zu einer Puppe werden, mit der man alles machen konnte, was man wollte und die es ohne zu murren oder was mich betraf, ohne überhaupt irgendeinen Laut hinnahm. Ich war dafür nicht geschaffen und so viel es mir auch dementsprechend schwer zu überleben." Plötzlich begann sich der Raum, indem sich Lyjana befand zu drehen. Sie wollte sich noch an der Tischkante festhalten, doch sie rutschte mit ihren auf einmal schweißnassen Händen daran ab und fiel.
Benommen schlug sie nach einigen Augenblicken die Augen wieder auf, doch anstatt an die reich verzierte Decke des Gerichtssaals zu blicken, sah sie nur eine weiße kahle Wand, so unnachgiebig, wie der Herr, der sie einziehen ließ. Im Raum, in dem sie sich befand, war es dunkel. Sie konnte noch nicht einmal die Hand vor Augen sehen. Geduldig blieb sie am Boden liegen. Was sollte sie auch sonst anderes tun? Außerdem fühlte sie sich erschöpft und müde. Zeit war hier anders bemessen. Irgendwann fielen ihr wieder die Augen zu und sie fiel in einen unruhigen Dämmerschlaf. Richtig schlafen konnte sie nicht mehr, denn ihre innere Uhr sagte ihr nämlich, dass die vier Stunden um waren und er bald wieder kommen musste. Er kam immer und er kam fast immer pünktlich. Woher sie wusste, dass es vier Stunden waren, wusste sie selbst nicht, doch es musste so sein. Er tat ihr auch nicht immer weh. Manchmal redete er einfach nur mit ihr oder starrte sie an. An anderen Tagen wiederum schlug und folterte er sie und er hatte sie auch schon zur Frau gemacht. Das war immer das schlimmste und bei dem bloßen Gedanken lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter. Sie konnte ihn jetzt noch in sich spüren...Die Tür schob sich lautlos auf. Nur das grelle Licht, dass wie immer automatisch anging, signalisierte ihr, dass er jetzt da war. Sie hatte schon längst aufgegeben zu fliehen, trotzdem hoffte sie jeden Tag auf einen Fehler von ihm. Er hatte ihr erzählt, wo sie waren, dass das Haus angeblich mitten im nirgendwo stand. Spätestens da wusste sie, dass sie hier niemals mehr lebend rauskommen würde. Gleichzeitig wünschte sie sich, dass er einfach nur log. Betete, wenn sie nicht schlafen konnte, wenn die Schmerzen noch zu groß waren, dass die Polizei sie finden möge. „Der wievielte ist heute?", fragte sie mit rauer Stimme. „Du bist seit zwei Wochen hier", kam die Antwort zurück. Erst 14 Tage, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr kam es vor, wie eine halbe Ewigkeit. Sie war jetzt schon am Ende ihrer Kräfte, wie sollte sie das alles nur weiter überleben? Lebte sie überhaupt noch? Manchmal fühlte sie sich wie eine lebende Leiche, eine Puppe, mit der man alles machen konnte, was man wollte. Sie wollte nichts mehr fühlen. Der Schmerz sollte aufhören. Ein Wunsch, ein Traum, der niemals wahr werden würde, außer sie wäre wirklich tot. War sie nun tot oder lebendig. Sie wusste es schon selbst nicht mehr.
Sie spürte, wie jemand ihr eine Ohrfeige gab und kehrte mit einem Stöhnen wieder zurück in die Gegenwart. Ihre Mutter kniete neben ihr, die Augen schreckgewietet, ihre Haut war etwas zu blass, wie Lyjana jetzt empfand. Sie hielt ein Glas Wasser in der Hand. „Was war es dieses Mal?", fragte Erik vom anderen Ende des Raumes sanft, eine Tonlage, die man von ihm gar nicht kannte. „Woher...", setzte Lyjana an, schüttelte dann aber den Kopf. Er wusste schon damals über alles Bescheid, warum nicht auch heute. Leicht stupste ihre Mutter sie an, wollte dass sie das Wasser trank, doch Lyjana schien sie gar nicht mehr wahrzunehmen. Sie spürte Eriks fordernden Blick auf ihr ruhen, der nach einer Antwort forderte, doch die konnte sie ihm nicht geben, denn das, was an jenem Abend passiert war, dieser Albtraum würde sie noch ihr restliches Leben verfolgen. Sie war nur froh darüber, dass er sie rechtzeitig wieder zurückgeholt hatte. Es war schlimm genug, dass sie von diesen Erinnerungen fast jede Nacht verfolgt wurde. Wenn dies jetzt tagsüber auch noch der Fall war, würde sie endgültig verrückt werden.
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Sag es!
HorrorWenn der Tod einem begegnet können die meisten Menschen nicht mehr entfliehen, doch für Lyjana Hathaway ist der Tod nicht das Ende - nein. Der Tod will sie und er spielt ein grausames Spiel mit ihr in dem nicht nur ihr Leben der Einsatz ist, jede S...