Gedämpft höre ich ein Klopfen an der Tür. Ich sehe wortwörtlich schwarz. "Wer ist da?", höre ich Jimmy sagen. Seine Stimme ist brüchig, das Weinen durch das gelegentliche Schniefen unverkennbar. Langsam öffnet sich die Tür. Ich stelle mir vor, was, wer auch immer es ist, jetzt vor sich sehen wird. Zwei Teenager in Sportklamotten, einen Jungen und ein Mädchen. Das Mädchen hat sein Gesicht eng an den Rücken des Jungen gepresst, sein Rücken ist nicht nur vom Sport nass. Beide liegen auf einem Bett, mit der dunklen Bettdecke halb zugedeckt. Der Junge hat seinen Kopf in einem Kissen vergraben, man sieht nur die blonden Haare. Und diese beiden Teenager sind Jim und Lilly Eisenberg. Ich spüre eine große Hand auf meiner Schulter. "Was ist los?", fragt ein Mann behutsam, ich glaube, es ist Sam. Meine Sinne sind noch wie betäubt, ich kriege alles nur gedämpft mit. Ich bin zu ausgelaugt, um zu antworten, zittere noch vom Heulkrampf. Die Hände ziehen mich von Jimmy weg, der Mann nimmt mich sanft auf seinen Schoß, weg von Jimmy. Ich gucke vorsichtig hoch, es ist wirklich Sam. "Lilly, was ist passiert?" "Ich... also wir..." Ich werde von weiteren Schluchzern unterbrochen. "Ja?" Sam streicht mir die nassen Haare aus dem Gesicht. "Ich habe Jimmys Freundin gesehen. Hier", bringe ich mit Mühe heraus. "Aber das ist doch toll!" Ich schüttele langsam den Kopf. "Sie... sie..." Ich vergrabe mein Gesicht in Sams Schulter. "Sie ist jetzt... ein... ein... Avox." Dann weine ich die letzten verbliebenen Tränen aus mir heraus. "Aber das ist schrecklich", sagt Sam nur. Ich nicke.
Als ich wieder aufwache, weiß ich nur noch, dass Sam das Zimmer irgendwann wieder verlassen hat. Langsam setze ich mich auf. Es hat irgendwie gut getan. Jetzt ist alles raus: dass ich mit Jimmy zusammen gezogen wurde und vor allem die Sache mit Emilia, das alles habe ich jetzt mit mir selbst geregelt. Mit Ersterem jedenfalls habe ich mich abgefunden. Ich stelle mich immer noch etwas zitternd hin und blicke auf das Bett herunter. Jimmy schläft noch. Ich gehe zum Fenster und schaue hinunter auf die Straßen von Distrikt 13. Alles ist in orangenes Licht getaucht, die Sonne geht unter. Es war drei Uhr nachmittags, als das Training beendet worden ist. Jetzt muss es ungefähr 19 Uhr sein. Offensichtlich haben die Erwachsenen beschlossen, uns alleine zu lassen. Doch es kommt mir irgendwie falsch vor, sie jetzt alleine essen zu lassen, wo ich doch wach bin und mich eigentlich ganz gut fühle. Also beschließe ich, runter zu gehen. Bin unten beim Essen -L, schreibe ich auf einen Zettel für Jimmy. Ich ziehe mir Pulli und Jeans an und gehe zum Essensraum. Während ich die Tür öffne, durch die das Geräusch von Messern und Gabeln dringt, die etwas auf einem Teller durchschneiden, frage ich mich, ob das wirklich eine so gute Idee ist. Aber es gibt kein Zurück mehr.
Als ich so im Türrahmen stehe, immer noch mit rot umrandeteten Augen, die auf meiner blassen Haut besonders gut zur Geltung kommen, spüre ich die erstaunten Blicke der anderen. Keiner sagt etwas, nicht unbedingt das Aufbauenste, was man nach einem Nachmittag voller Tränen erwarten könnte. Langsam bewege ich mich vorwärts und setze mich auf einen der modern designten Stühle. Ein Avox bringt mir sofort einen Teller voll mit dampfendem Essen. Ich muss mich erst vergewissern, dass es nicht Emilia ist, bevor ich mit dem Essen beginne. In meinem Körper sind keine Tränen mehr, die ich aufgrund dieser Begegnung vergießen könnte und so bleibe ich gefasst. Paul bricht endlich das Eis. "Hi, Lilly. Schön, dich zu sehen." Der Klang der warmen Stimme meines Stylisten erfüllt mich mit einer ungekannten Wärme. "Hi", gebe ich schüchtern zurück. Auch Joanne scheint sich jetzt ein Herz zu fassen. "Lilly, die Frage ist jetzt vielleicht etwas unpassend, aber wie ist das Training gelaufen?" Ich winke ab. "Für mich ist Ablenkung angenehm", meine ich betont freundlich. "Jimmy und das Schwert sind füreinander gemacht. Ich und das Schwert nicht. Ich hab noch nichts Passendes gefunden und nach mehreren unglücklichen Versuchen mit anderen Waffen wurde ich, muss ich zugeben, ziemlich wütend und frustriert. Und dann", an der Stelle senke ich etwas beschämt den Kopf, "bin ich mit Jimmy zu den Parcours gegangen. Rennen und Reflexe-schwierig, stand auf dem Schild." An dieser Stelle unterbricht Joanne mich. "Ja, davon habe ich gehört. Wer eine Minute und 15 Sekunden schafft, ist echt gut. Ist Jimmy auch gelaufen?" Ich nicke. "Er hat zwei Minuten gebraucht." Joanne nickt anerkennend. "Nicht ganz schlecht. Was ist mit dir?" "Äh..." "Ich bin dir nicht böse, Lilly. Auch wenn das jetzt vielleicht nicht die beste Darbietung war, darfst du dich davon nicht aus der Bahn werfen lassen. Also, was war dein Ergebnis?" Ich spüre, wie ich rot werde. "45 Sekunden." Eine Gabel fällt zu Boden. Paul bückt sich, um sie wieder aufzuheben. "W... wie... wie hast du das geschafft?", fragt Joanne nach einer Weile voller verblüfftem Schweigens. "Ich weiß es, kurz gesagt nicht. Ich bin einfach losgerannt und gerannt und gerannt und war wirklich sauer. Nicht nur, weil ich kein Talent zu besitzen scheine, der Junge aus Distrikt 1 hat mich so aufgebracht." Sam zieht eine Broschüre aus seiner Hosentasche. Das Papier ist schon etwas zerknittert, auf dem Deckblatt steht: Die 76. Hungerspiele von Panem: Die Tribute. Ich spüre, wie sich mir die Nackenhaare aufstellen. Die Teile muss es überall geben. Sam öffnet die Broschüre und legt sie vor mich hin, auf der aufgeschlagenen Seite ist ein Bild des Jungen aus Distrikt 1 zu sehen. Justin Wilkinson steht unter dem Bild. So heißt also mein neuer Erzfeind. Eigentlich ein ganz gewöhnlicher Name. So könnte jeder heißen. Er sieht außerdem ganz gut aus. Und ganz nett. Er will nur gewinnen. Um jeden Preis. Und der Preis ist hoch: 23 Menschenleben müssen beendet werden, bevor man selbst sicher ist. Aber Justins Leben wird zu diesen 23 gehören müssen, wenn mein Plan aufgeht. Und das muss er. "Lilly? Der da?" An der Aufdringlichkeit von Sams Frage merke ich, dass er sie schon mehrmals gestellt haben muss. Ich schüttele die melancholischen Gedanken ab und nicke. "Genau der." "Der sieht gefährlich aus", kommentiert Paul mit vollem Mund. Ich nicke noch einmal. "Da hast du wohl nicht ganz unrecht, Paul. Und meine Zeit beim Parcours hat wohl auch nicht zu seinem Willen, sich für mich zu opfern, beigetragen", meine ich trocken. Während ich meinen Blick umher gleiten lasse, fällt mir auf, dass alle aufgegessen haben. Nur ich nicht. Mein Teller ist noch fast voll. Langsam schiebe ich ihn von mir weg. "Keinen Hunger mehr", murmele ich und gehe aus dem Raum.
Jimmy liegt noch immer im Bett, aber ein Blick auf die Uhr verrät, dass es schon fast 20 Uhr ist. Ich schüttele ihn sanft, bis er verschlafen ein Auge öffnet. "Ach, du bist es, Lilly." Dann scheint ihm alles wieder einzufallen und die Bestürzung kehrt in sein Gesicht zurück. Ich streichele ich sachte, was ich schon lange nicht mehr gemacht habe. "Es ist okay", flüstere ich und klinge dabei wie Katniss, als Rue starb. Ich mochte Rue und fand es in diesem Moment zum ersten Mal wirklich ungerecht, was das Kapitol den Distrikten zumutete. Vorher hatte ich es hingenommen, wie es war. Es war eben so. Die Hungerspiele gab es mein Leben lang. Wieso sollte es also schlecht sein, Snow wusste, was er tat. Jimmy ist einen Moment wie versteinert. Dann nickt er wie in Zeitlupe. "Wenn du das sagst." Dann kneift er die Augen zusammen. "Du hast andere Sachen an. Warst du weg?" Ich nicke. "Unten beim Essen. Ich war wach und fand, dass sie es erfahren dürfen." "Früher oder später hätten sie es sowieso erfahren. Ich wollte es jedenfalls nicht mit ins Grab nehmen." Dann erst merkt er, was er gesagt hat. "Oh", bringt er nur heraus. Ich winke ab. "Schon okay, Jimmy. Ich geh jetzt rüber, du weißt, wo du mich findest." Er nickt. Ich schließe die Tür und bewege mich gemächlich auf meine eigene zu. In meinem Zimmer angekommen suche ich in meinem Kleiderschrank nach dem wärmsten und weichsten Schlafanzug der Welt und lege ein vielversprechendes hellblaues Modell auf mein Bett. Ich schnappe mir ein flauschiges Handtuch und gehe Duschen. Das warme Wasser beruhigt mich endgültig. Als ich aus der Duschkabine trete, fühle ich mich wie erneuert. Jetzt, nach ungefähr 6 Stunden habe ich alles realisiert. Doch jetzt spüre ich auch den Hunger. Training ist anstrengend und die paar Bissen, die ich beim eigentlichen Abendessen runtergewürgt habe, haben meinen Hunger nicht gestillt. Ich will mich gerade selbst dafür verfluchen, dass ich nicht vernünftiger war, als mir das Sprachrohr einfällt. Ich renne, nur in das Handtuch gewickelt, in den eigentlichen Wohnraum und ziehe mir schnell den Schlafanzug über. Er hält sein Versprechen, ich fühle mich wie ein Teddybär. Ich suche mein Zimmer nach der Karte ab, finde sie auf dem Nachttisch. Ich überfliege die Unmengen an Gerichten, entscheide mich schließlich für Spaghetti mit Pesto. Kaum habe ich die Nummer in das Sprachrohr gesprochen, bringt mir ein Kellner den Teller herauf. Ich bin froh, dass es diesmal kein Avox ist.
Nach den köstlichsten Nudeln der Welt, und meine Mutter war eine grandiose Köchin, falle ich ermüdet ins Bett. Ich bin schon halb eingeschlafen, als es an der Tür klopft. Ohne auf eine Antwort zu warten, kommt Jimmy rein. Ich stöhne gespielt. "Du schon wieder", rufe ich und rolle mit den Augen. Ich kann Jimmys Schmunzeln förmlich spüren. "Gut, dann geh ich eben wieder", antwortet er hochnäsig. Doch ich weiß, dass er das nicht bringen wird. "Was willst du denn nun hier?" Jimmy legt sich neben mich auf mein Bett. Er trägt inzwischen Jeans und T-Shirt. "Nur ein bisschen ausruhen. Sonst nichts", sagt er, allerdings eher zu sich als zu mir. Ich glaube ihm nicht. Er hat Angst um mich. Dass mir auch noch etwas passiert. Für ihn ist das hier noch viel schwieriger als für mich. Er vertraut unserem Team ganz und gar nicht. Er wird gezwungen, etwas zu tun, was völlig gegen seine Natur ist. Justin hat ihn eingeschüchtert. Und dann ist seine Freundin hier, als Avox. Er braucht mich jetzt. Und ich brauche ihn. Ich glaube, unsere Angst um den anderen lässt uns unsere eigenen Bedürfnisse vergessen.
Irgendwann höre ich ein leises Schnarchen. Ich stehe so leise wie möglich auf. Decke Jimmy zu, dann klettere ich wieder zurück ins Bett. Mir fällt auf, dass ich den Ring immer noch um meinen Hals trage und lasse ihn kurzerhand auf den Boden fallen. Mit dem Bild von Emilia in Avoxuniform in der Loge der Spielmacher stehend, schlafe ich ein.
DU LIEST GERADE
Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung
FanfictionPanem, ein Jahr nach Kriegsende. Das Kapitol gestürzt, alle Bewohner auf die Distrikte verteilt. Lilly Eisenberg, 15 Jahre alt, lebt mit ihrer Familie in Distrikt 5. Eigentlich geht es ihnen gut, wenn da nicht dieser eine Tag wäre. Der Tag der Ernte...