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"Weißt du, Lilly", sagt Jimmy, während wir durch einen nicht enden wollenden Gang, der zu unseren Zimmern führen soll, laufen,"du kannst gut klettern. Wenn wir angegriffen werden, kannst du also schnell auf einen Baum klettern, während ich den Gegner bekämpfe." "Und was ist, wenn es keinen Baum gibt?" "Ich wusste, dass du das sagen wirst. Dann kletterst du sonst wo rauf." "Und wenn es alles flach ist?" "Dann rennst du, Lilly." "Und was ist, wenn überall Eis ist und ich ausrutsche?" Jimmy rollt mit seinen hübschen Augen. Dann bleibt er vor mir stehen, dreht sich zu mir um und fasst mich an der Schulter. Ich blicke direkt in das tiefe Blau seiner Augen. "Lilly, wir kriegen das schon hin. Die Arena ist schon gebaut, wir können daran nichts mehr ändern. Aber wir schaffen das, auch wenn du das vielleicht gar nicht willst." Ich kann den Schmerz in seiner Stimme hören. Er weiß, dass ich hier nicht raus will. Okay, ich habe es auch nicht gerade versteckt, aber trotzdem wollte ich nicht, dass Jimmy es so genau weiß. "Du weißt, Lilly, dass ich hier auch nicht rauswill. Dass ich dir ein Leben ermöglichen möchte. Es darf nicht ohne Grund einer überleben. Nutze deine Chance, Lilly, nutze sie." Dann rennt er weg, den Flur entlang und verschwindet in seinem Zimmer. Ich höre auch aus der Entfernung das Klicken des Schlüssels, als Jimmy ihn im Schloss herumdreht.
In einer Weise enttäuscht gehe ich in mein eigenes Zimmer. Kaum sitze ich auf meinem Bett, vermisse ich ihn. Ich will, dass er jetzt reinkommt, ohne zu klopfen, mich fragt, was ich denn hier so faul herumsäße, mich anlächelt und sich neben mich fallen lässt. Aber das wird nicht geschehen, er braucht jetzt Zeit für sich, und ich, denkt er jedenfalls, auch. Aber die brauche ich nicht. Mir bleibt nicht viel Zeit, aber die will ich nutzen. Mit ihm verbringen. Ich will nicht auf einem Bett sitzen, das mir nur für ein paar Tage gehört und mir über sein Befinden Gedanken machen. Ich will leben, und wenn es nur für wenige Tage ist. Jimmy soll seinen sicherlich hübschen Kindern von ihrer Tante erzählen, wie glücklich sie während ihrer letzten Tage war. In vier Tagen ist es vielleicht schon so weit. Vielleicht habe ich auch noch einen Monat. Es ist wie mit einer tödlichen Krankheit: du weißt nicht, wann, aber früher oder später wird sie dich dahinraffen. Aber vielleicht sind die Hungerspiele nichts anderes als eine Krankheit. Eine Krankheit, deren Epidemie man niedergeschlagen hatte, die aber in einer Gegend noch einmal ausbricht. Und damit vielleicht eine weitere Epidemie auslöst, die einen Teil des ganzen Staates dahinrafft. Ich weiß es nicht und ich werde es nie erfahren. Genauso wie 22 andere, die heute in der Trainingshalle waren. Plötzlich öffnet jemand die Tür. Jimmy ist es nicht, der geht sofort rein. "Herein", rufe ich. Wer ist da? Wer traut sich nicht, reinzukommen? Mein Zimmer betritt Emilia. Sie hält ein Tablett mit einer Porzelantasse darauf in der Hand. Als sie mich da sitzen sieht, bleibt sie wie erstarrt stehen und wird bleich. Das Tablett fällt fast herunter. "Hi", ist alles, was ich herausbringe. Ich hatte gedacht, dass ich heule, durchdrehe, ohnmächtig werde, um mich schlage. Die ganze Zeit war meine größte Angst, Emilia gegenüberzustehen. Aber die Tränen sind verbraucht. Erst gestern haben Jimmy und ich weinend im Bett gelegen, es kommt mir viel länger her vor. Und jetzt sehe ich meine Freundin als Avox vor mir und sage nur "Hi". Emilia stellt das Tablett hin und geht auf mich zu. Dann fallen wir uns in die Arme. Wie alte Freunde, die sich nach einer längeren Zeit wiedertreffen. Denen es aber beiden gut geht. "Stimmt es wirklich?", flüstere ich, als wir uns aus der Umarmung lösen. Sie nickt. Dann tut sie so, als würde sie mit den Fingern in der Luft schreiben. "Du willst mir was aufschreiben?", frage ich unsicher. Zeichensprache konnte ich nie gut deuten. Sie nickt erneut. Schnell krame ich irgendwo Papier und Bleistift hervor und lege es auf meinen Nachttisch. Dann drücke ich Emilia den Stift in die Hand. Nach einigen Sekunden steht ein Satz auf dem Zettel. Lass dich nicht beeinflussen. Kämpf für dich selber! E. Ich muss lächeln. "Danke", sage ich und versuche damit einer Antwort zu entgehen. "Darf ich dir jetzt ein paar Fragen stellen?" Okay. "Wie lange weißt du schon, dass ich hier bin?" Ungefähr 5 Minuten. "Hast du mich nicht beim Training gesehen? Ich habe dich nämlich gesehen." Sie schüttelt den Kopf. Ich darf nicht nach oben schauen, bevor man es mir befiehlt... "Das ist ja schrecklich!" Emilia zuckt bloß mit den Schultern. So war sie schon immer. "Wie konnte es denn überhaupt so weit kommen?" Sie schüttelt den Kopf. Willst du nicht wissen, Lilly. Sie will es offenbar nicht erzählen. Das ist Emilias Art, das zu sagen. "Okay. Aber... lebt den Castes noch?" Castes ist oder vielleicht auch war ihr kleiner Bruder. Er war neun, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Nach einer kleinen Pause bringt Emilia ein krakeliges Wort auf das Papier. Nein. Gleich darauf wird das Wort von einer Träne verwischt. Sie haben ihn sofort getötet. Wir waren unter den Leuten auf dem Platz vor dem Palast. Alle 4. Plötzlich rannte ein Rebell auf meinen Vater zu und befahl uns, mitzukommen. Wir landeten in einer Zelle, aus der wir alle rausgeholt und verhört wurden. Mein Vater zuerst, dann meine Mutter. Dann ich. Präsidentin Coin war beim Verhör dabei, auf ihren Geheiß hin haben sie mich geschlagen, bis ich ihnen alles erzählt hatte. Ich schlage mir die Hand vor den Mund. Wieder einmal. Doch Emilia schreibt weiter. Als ich wiederkam, wurde Castes aufgerufen. Er kam nicht zurück. Mein Vater saß noch eine Weile im Gefängnis und wurde dann zum Tode verurteilt. Meine Mutter ist noch in Haft. Und ich... das weißt du ja. Castes haben wir nie wieder gesehen. Ich weiß nicht, wieso das alles geschehen ist, aber es geschah alles noch unter Coin und ist allein ihre Schuld. Ich muss gehen. Tschüss. Ohne ein weiteres Zeichen verlässt sie den Raum. Wohin geht sie? Wie sehr hat sie der Tod eines Teils ihrer Familie mitgenommen? Geht sie jetzt zu Jimmy? Oder war sie schon vorher bei ihm? Wäre nur logisch, sie lieben sich. Aber hat sie Jimmy vielleicht aufgrund ihrer anderen Probleme in den Hintergrund gedrängt? All das werde ich nie erfahren, denn ich traue mich nicht, sie das zu fragen. Etwas aufzuschreiben kostet so viel mehr Überwindung als es zu sagen. Ich nehme den Zettel vom Nachttisch und mache es mir im Bett gemütlich. Ich studiere jeden Buchstaben ganz genau und versuche, mir ihre Stimme vorzustellen, während sie mir das alles erzählen. Ihre weiche Stimme, die sie nie wieder benutzen wird. Ihr schöner Gesang, der nie wieder ertönen wird. Ich weiß nicht, ob sie, selbst wenn sie noch sprechen könnte, singen würde, nach alldem, was ihr und ihrer Familie zugestoßen ist. Ich würde es jedenfalls nicht wollen.

Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich die Person, die mein Zimmer betreten hat, erst bemerke als sie sich über mich beugt und ihr Schatten auf das von den Tränen gewellte Papier fällt. Instinktiv falte ich es zusammen und schaue erst dann nach, wer da steht. Es ist Margaret. Ich weiß nicht, was sie hier will, wir haben kaum ein Wort miteinander gewechselt. "Hallo, Lilly", sagt sie. Sie hat eine angenehme, tiefe Stimme. "Hallo", sage ich etwas zerstreut. "Ich dachte, wir unterhalten uns mal über dein Outfit für die Interviews. Paul ist der Meinung, wir sollten das mit der Zuteilung von Stylist und Tribut nicht so eng sehen und hat mir also diese Aufgabe übertragen. Aber da er dich ja letztes Mal auch hat überlegen lassen und das gut geklappt hat", an dieser Stelle zwinkert sie mir zu,"dachte ich, dass wir das ja nochmal probieren können, was meinst du?" Ich nicke und lasse den Zettel von Emilia schnell in der Hosentasche verschwinden. Margaret hat es offensichtlich wahrgenommen, sagt aber nichts. Sie reicht mir den Rest des Papiers auf meinem Nachttisch und stellt auch keine Fragen, warum es denn da läge. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie mich einfach machen lässt und nicht unnötig durcheinander bringt. Ich nehme also den Bleistift in die Hand, ein 3B, meine Lieblingssorte. Ich beginne, einen Körper zu skizzieren um mich etwas einzufinden. Dann gehe ich zum Kostüm über. Doch so wirklich fällt mir nichts ein. Nach mehreren unglücklichen Versuchen gebe ich es auf. Es ist nicht Margarets Schuld, sie hat sich wirklich zurückgehalten. "Mir fällt einfach nichts ein", seufze ich. Es ist wirklich deprimierend. "Nicht schlimm", meint Margaret und klingt wirklich nicht wütend. "Dafür hast du ja uns Stylisten. Wir lassen uns schon was einfallen, warte es nur ab." Mit einem weiteren Zwinkern steht sie auf und geht aus dem Zimmer. Ich habe in letzter Zeit sehr viele seltsame Besuche gehabt, aber dieser ist eindeutig in den Top Drei. Ich gucke eine Weile aus dem Fenster hinunter auf Distrikt 13. Unter der Fensterbank, auf der ich meinen Arm abstütze steht eine Heizung die mich angenehm wärmt. Unten läuft ein dunkel gekleideter Mann vor dem Trainingscenter hin und her, irgendwann geht er weg. Er läuft ein bisschen wie Papa. Den rechten Arm die ganze Zeit schwingend, den linken steif an der Seite. Mama hat sich darüber immer mit uns lustig gemacht. Eine Gruppe Mädchen ungefähr meinen Alters laufen mit Einkaufstüten bepackt unten vorbei. Ihnen folgen drei Jungen, offensichtlich bemüht, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Eine Frau mit Hut führt ihren Hund aus. Ich frage mich, an was sie gerade denken. Welche Probleme sie haben. Warum sie ausgerechnet heute um diese Uhrzeit hier lang laufen. Ob sie sich schon auf die 76. Hungerspiele freuen? Oder waren sie von Anfang an dagegen? Zu wem halten sie? Man kann es nicht wissen, zu oft täuscht das Äußere.

Ein blonder Haarschopf lugt durch die Tür, er spiegelt sich im Fenster. "Komm rein, Jimmy." "Wir haben das Abendessen verpasst", sagt er. Das lässt meinen anfänglichen Ärger über ihn verrauchen und bringt mich zum Lachen. "Viele Chancen hast du nicht mehr, Jimmy, ich würde mich ranhalten." "Wohl wahr, Lilly, aber du kannst jetzt auch nicht gerade viele Striche auf der Anwesenheitsliste vorweisen." "Stimmt, weil es keine gibt." "Das weißt du nicht." Wie so vieles.

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt