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Zwischen dem dichten Blattwerk erscheinen sie. Begleitet von der Hymne kann ich erst das Mädchen aus Distrikt 1 und dann aus Distrikt 2 erkennen. Sie ist die Sechzehnte. Sechzehnte. So viele sind schon tot. Und ich habe nur über einen Tod weiter nachgedacht. In diesem Moment fühle ich mich schlecht. Weil ich heute einen Menschen getötet habe. Und ich habe jemand anderem ein Lied gesungen. Vielleicht hat auch Alex das Mädchen aus Distrikt 2 getötet. Ich versuche, es dabei zu belassen, aber mein schlechtes Gewissen plagt mich. "Wollen wir hier die Nacht verbringen?", fragt Jimmy. Ich nicke. Den Vormittag haben wir noch am Bach verbracht, dann sind wir losgezogen. Inzwischen befinden wir uns irgendwo im Wald von Distrikt 12. "Lange werden wir sowieso nicht mehr gut sehen können", schließt sich Alex uns an. Wir schlagen unser Lager unter einer großen Fichte auf und Jimmy übernimmt freiwillig die erste Wache. Alex und ich legen uns nebeneinander in die Schlafsäcke. "Wie heißt sie?", frage ich ihn flüsternd. "Wer?" "Deine Distriktpartnerin", wispere ich. "Hanna", antwortet er mit der Andeutung eines Seufzers in der Stimme. "Warum bist du traurig?", frage ich und erinnere mich unwillkürlich an die Nacht in der Hütte, die erste Nacht mit Jimmy. "Es ist nichts", murmelt er und ich weiß, dass er lügt. Aber ich will mich ihm nicht aufdrängen, wenn er mich wirklich liebt, wird er sich mir irgendwann anvertrauen. "Glaubst du, sie ist noch mit dem Jungen aus Distrikt 1 verbündet?", fragt er. "Er heißt Justin. Justin Wilkinson. Sie ist vor ihm weggerannt. Ich denke eher, dass Justin nicht sonderlich begeistert davon war." "Wahrscheinlich..." "Zumindest müssen wir sie dann nicht töten", sage ich. "Ich glaube nicht, dass sie sich von Justin fangen lassen wird. Sie ist echt klug", meint Alex resigniert. "Woher weißt du das?" "Kenne sie schon ewig. Glaub mir, sie weiß, was sie tut." Ich widerstehe dem Drang, zu fragen, woher er sie kennt. "Weißt du, woher sie weiß, was sie tut?" "Distrikt 7. Sie hat das alles da gelernt", antwortet Alex. "Und wieso hast du es nicht da gelernt?", frage ich weiter. "Ich wollte es nicht. Ich war fest davon ausgegangen, nicht gezogen zu werden. Ich war naiv", murmelt er. Ich schüttele den Kopf. "Du warst einfach optimistisch. Die Wahrscheinlichkeit, dass du gezogen wirst, ist wirklich sehr gering." "Aber es ist passiert..." Ich spüre, wie ich wütend werde. "Ich bin hier mit meinem verdammten Zwillingsbruder, Alex. Welche Wahrscheinlichkeit ist jetzt gering?" "Tut mir leid, Lilly. Ich wollte dich nicht verletzen", flüstert Alex beschwichtigend. "Du hast mich aber verletzt." Er holt tief Luft. "Darf ich dich küssen?" "Nein. Nicht jetzt. Ich will jetzt schlafen", gebe ich knapp zurück. Ich weiß, dass ihm das weh tut. Ich will sofort alles rückgängig machen. Will seine Hand streicheln. Und ihn küssen. Ich will herausfinden, ob ich ihn liebe. Weil ich es mir eigentlich verbieten müsste, so zu denken. Morgen, denke ich, bevor ich einschlafe.

Aber am Morgen ist etwas anders. Ich schlage die Augen auf und sehe niemanden. Weder Jimmy noch Alex hockt über mir, lächelnd, niemand motiviert mich, einen weiteren Tag überstehen zu wollen. Ich rappele mich auf und sehe Jimmy und Alex etwas weiter entfernt sitzen. Erleichtert, dass sie nicht irgendwo anders sind, schlendere ich zu ihnen und lasse mich neben Alex fallen. "Guten Morgen", sage ich. "Hi, Lilly", antwortet Jimmy lächelnd. Aber Alex nickt nur. Er sieht mich nicht einmal an. Mir wird kalt. "Was machen wir heute?", frage ich betont fröhlich. "Ich würde gerne weitergehen", meint Jimmy. "Und du, Alex?" Doch er zuckt nur düster mit den Schultern. "Hey, Kumpel, seit wann so depressiv?", fragt Jimmy ihn und es klingt ehrlich. "Bin nicht depressiv", murmelt Alex. Mehr sagt er nicht. Aber ich weiß genau, was es heißen soll. Er ist nicht depressiv, er ist nur verletzt. Ich will mich sofort entschuldigen. Aber ich mache es nicht. Nicht vor Jimmy. Noch nicht. "Na dann", sagt dieser schließlich, als die Stille unangenehm wird. "Wollen wir aufbrechen?", frage ich. Jimmy nickt und weil ich von Alex nicht allzu viel erwarte, fange ich an, meine Sachen zusammenzupacken. Bevor wir losgehen, essen wir noch kurz etwas und trinken einen Schluck.

Ich mag den Wald immer noch. Er hat so viel Unglück über mich gebracht, hier habe ich getötet oder es jedenfalls versucht, hier bin ich fast verdurstet und hier habe ich den Menschen, von dem ich den Verdacht habe, ihn zu lieben, verletzt. Aber erst in diesem Wald habe ich den Verdacht bekommen, jemanden zu lieben. Und hier habe ich mich frei gefühlt. Zwar überwiegt der negative Anteil, aber manchmal ist nicht die Anzahl der Aspekte relevant, sondern ihr Inhalt. Und für Gefühle gebe ich ausnahmsweise mehr als für Geschichte. Es ist passiert, niemand kann es rückgängig machen. Und obwohl ich in genau dieser Situation bin, in den Hungerspielen, fühle ich mich besser, als wir den Weg betreten, der uns möglichst zu einem guten Platz führen soll. Alex läuft hinter mir, Jimmy vor mir. Beide haben ihre Waffen griffbereit, Alex seinen Bogen vermutlich gespannt. Ich traue mich nicht, mich umzudrehen, will nicht den Schmerz in Alex' Gesicht sehen. Jetzt könnte er mich einfach töten. Wahrscheinlich würde er dann Jimmy zum Opfer fallen, aber ich wäre unwiderruflich tot. Würde ich ihm verzeihen? Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt? Vielleicht würde ich es gut finden, dass er mir weitere Qualen erspart hat. Durch einen Pfeil stirbt man schnell. Aber könnte er das? Könnte er mich töten? Vielleicht liebt er mich gar nicht. Vielleicht wollte er mich nur um den Finger wickeln. Um mich dann töten zu können. Und ich bin reingefallen. Dumm, wie ich bin. Aber was ist, wenn er mich doch liebt. Er ist eindeutig verletzt. Aber wenn er so gut vortäuschen kann, in mich verliebt zu sein, ist Verletztsein für ihn ein Kinderspiel.

Um die Mittagszeit herum geht uns das Wasser aus. Ehrlich gesagt war das zu erwarten. Und damit wären wir wieder am Anfang. Resigniert machen wir uns wieder auf. Es ist zu warm, aber ich will meine Jacke nicht ausziehen, also schwitze ich. Ich bin müde, habe Schuldgefühle. Mein Blick schweift lustlos über die Bäume, als ich etwas sehe. Etwas Glänzendes. Ich tippe Jimmy vorsichtig auf die Schulter. Sofort fährt er herum. Als er sieht, dass nur ich es bin, entspannt er sich wieder. "Da hinten", sage ich leise. Er wendet seinen Kopf, seine Augen leuchten auf, als er es sieht. "Alex?", ruft er. "Was?", ertönt es genervt von hinten. "Wir müssen mal kurz abbiegen", meint Jimmy verschmitzt. Ich folge ihm und hinter mir höre ich die schlurfenden Schritte von Alex. Bald stehen wir vor einem See. Einem See mit klarem Wasser. Wir gehen noch ungefähr 100 Meter, dann schlagen wir unser Lager auf. Ich renne zurück und springe förmlich in den See, ohne zu bedenken, wie nass meine Klamotten dabei werden. Ich lache und spritze wie ein kleines Kind Wassertropfen umher, bis ich Alex' Blick sehe. Er schaut traurig. Sofort werde ich ernst. Ich wate aus dem Wasser und wende mich an Jimmy:"Ich glaube, es ist nicht das Schlauste, unsere Sachen unbeobachtet zu lassen. Ich gehe zurück. Kann ich Alex mitnehmen?" "Du hast recht, Lilly. Wenn er will, kannst du das. Ich bin stark genug", antwortet Jimmy, er scheint nicht bemerkt zu haben, wie es Alex geht. Er wirft ihm einen Blick zu und Alex nickt. Ohne mich umzudrehen gehe ich die Strecke zurück, zum dritten Mal. Als wir angekommen sind, setze ich mich vor einen umgefallenen Baumstamm. Alex lässt sich einige Meter von mir entfernt nieder. "Du darfst mich jetzt küssen", sage ich vorsichtig. Er reagiert nicht. "Das darfst du jederzeit", versuche ich es erneut. Immer noch keine Reaktion. "Alex?" Er zeigt immer noch keine Regung. Ich hasse das. In solchen Situationen fange ich schnell an, zu weinen, und das darf mir jetzt nicht passieren. "Es tut mir leid. Ehrlich", sage ich. Er zuckt mit den Schultern. "Ich habe überreagiert. Der Kampf mit den Karrieros, das ganze Geklettere, das hat mich ziemlich mitgenommen. Jetzt geht es mir wieder gut. Bitte, Alex, rede mit mir", flehe ich. Er dreht sich zu mir um, sieht mich mit ausdruckslosen Augen an. "Und das soll ich dir glauben, Lilly Eisenberg?", sagt er nur. Seine Stimme ist brüchig. Ich nicke beklommen. "Ja, das sollst du", flüstere ich. "Mit mir kann man es ja machen", murmelt er, "ich kann es ja verkraften." Ich spüre förmlich, wie mein Herz zerreißt. "Nein, kann man nicht. Ich hätte es nicht tun sollen und ich bereue es zutiefst." "Aha", sagt er nur. Dann wendet er sich ab. "Mein ganzes Leben geht das schon so", sagt er nach einer Pause in die Stille hinein, immer noch von mir weggedreht. "Meine Freunde. Ich hatte nie Freunde. Sie haben mich immer wieder verletzt. Dann kamen sie wieder angekrochen. Und ich habe ihnen jedes Mal eine neue Chance gegeben. Meine Familie. Denkst du, ich wäre gerne in die Schule gegangen? Dementsprechend waren meine Noten. Denkst du, sie haben das respektiert, mir geholfen? Haben sie nicht. Niemand hat das. Aber ich dachte, du wärest anders, Lilly Eisenberg. Ehrlich, das dachte ich. Aber ich bin naiv. Ich bin viel zu naiv und dumm." Ich bleibe sitzen. Und hasse mich für meine Taten. Ich hasse mich für alles, was ich getan habe. Ich hasse mich dafür, dass ich überhaupt lebe. Ich hasse mich dafür, dass ich sein Vertrauen verschenkt habe. Und dass ich ihn nicht trösten kann. Den Tränen nah gehe ich auf ihn zu. Knie mich vor ihn hin, zitternd und aufgelöst. "Ich liebe dich", flüstere ich. Er sieht kaum auf. Er zögert. "Ich dich auch, Lilly Eisenberg. Und solange ich Alexander Frazier heiße, werde ich das tun." Ich lächele und eine Träne rollt über meine Wange. Ich glaube, es ist eine Freudenträne. "Jetzt ist es an mir, mich zu entschuldigen. Lilly Eisenberg, alles, was ich fälschlicherweise über dich gesagt habe, nehme ich mit sofortiger Wirkung zurück." Statt zu antworten, falle ich ihm um den Hals. Dann küsse ich ihn. Vielleicht küsst er auch mich. Mir ist klar, dass das, was ich eben gesagt habe, nicht so leicht rückgängig zu machen ist. Aber mir ist auch klar, dass ich es nicht rückgängig machen will.

Als wir uns voneinander lösen, sehe ich Jimmy hinter einem Baumstamm hervorschauen. Und als ich seinen Blick sehe, weiß ich, dass ich einen Fehler gemacht habe.

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt