Fanfaren schallen durch die immer noch warme Nachtluft. Wieder wende ich meinen Blick dem Himmel entgegen, obwohl ich weiß, dass ich außer den Sternen nichts sehen werde. "Wir gratulieren den fünf verbleibenden Tributen und freuen uns über euren Mut und eure Opferbereitschaft!", tönt es über den Wald hinweg. "Zu euren Ehren wird morgen, wenn die Sonne aufgeht, ein Festmahl am Füllhorn abgehalten werden. Vielleicht wollen einige von euch nicht kommen, aber für alle wird etwas da sein, das ihr benötigt. Möge das Glück mit euch sein, edle Tribute der 76. Hungerspiele!" Mit einem weiteren Ertönen der Fanfaren ist die Durchsage beendet. Ich tausche einen Blick mit Alexander. Dann mit Jimmy. "Die wollen uns in der Stadt haben", sage ich,"machen wir das?" "Das hier würde ich für eine ziemlich sanfte Methode halten, uns dahin zu bekommen. Ich würde es machen, ehe hinter uns ein Feuerwall auftaucht", murmelt Jimmy. Ich nicke. "Ist wohl das Beste für uns alle", sagt Alexander.
Als der Mond schon droht, unterzugehen, machen sich drei dunkle Gestalten auf den Weg zur Stadt. Noch ist es kühl, mein Atem ist in Form von kleinen Wölkchen zu sehen. Ich weiß nicht, ob ich Angst haben soll. Eigentlich habe ich die ganze Zeit darauf gewartet. Es war abzusehen. Morgen früh werde ich nicht mehr am Leben sein. Das hier wird mein letzter Sonnenaufgang sein. Den letzten Sonnenuntergang meines Lebens habe ich kaum gewürdigt. Aber vielleicht halte ich ja noch bis heute Abend durch.
Die Sterne jedenfalls wurden von mir ausreichend gewürdigt. Fast die ganze Nacht lag ich wach und hab sie angeschaut. Es kam so schnell. Ich habe gehofft, noch länger mit Alexander sein zu dürfen. Ich habe gehofft, mich mit Jimmy vielleicht doch noch ein wenig mehr zu vertragen. Aber so sollte es nicht sein.
Wir reden nicht. Wir haben die ganze Zeit nicht geredet. Den ganzen Morgen nicht. Irgendwie hätte es die Situation zerstört. Wir alle drei wissen, dass nur einer von uns fünf Tributen überleben wird. Und wir alle drei wollen es nicht selber sein.Ich habe meine Hand fest an meinen Messern. Ich habe nur einen Gürtel mitgenommen, ein zweiter hätte mich nur behindert. Und ich habe das Gefühl, dass die Fähigkeit, zu Rennen heute wichtig sein wird. Alexander hält seinen Bogen wie immer fest gespannt, aber es kommt mir so vor, als würde die Waffe ein wenig hin und her zittern. Jimmy hingegen schaut starr nach vorne, ohne eine Regung. Der Griff um sein Schwert ist fest, seine Hand ist fast weiß vor Anstrengung. Ich will, dass wenn ich morgen das Licht des Tages erblicke, sie bei mir sind. Ich will, dass sie mein ganzes Leben lang bei mir sind. Aber wir haben nur noch diesen einen Tag. Ich frage mich, ob Hanna und Justin überhaupt da sein werden. Sie werden es. Hanna auf jeden Fall, wenn sie so klug ist, wie Alex gesagt hat. Justin auch. Weil Justin jetzt gewinnen will. Weil Justin mich endlich töten will.
Ich beschließe, keine Angst zu haben. Angst hindert mich nur daran, zu denken und richtig zu handeln. Angst lässt mich mein Ziel vergessen. Jimmy am Leben zu erhalten.Als wir am Füllhorn angelangen, sehe ich niemanden. Das letzte Mal, als ich verletzt war und wir den Weg bis zum Wald zurückgelegt haben, war es ein Tagesmarsch. Jetzt hat es nicht einmal eine Stunde gedauert. Wir kauern uns hinter eine Hauswand, von der aus wir alles überblicken können. "Wir halten doch zusammen, oder?", flüstere ich. "Bis zum Ende?" "Bis zum Ende", wiederholt Alexander. "Bis zum Ende", sagt auch Jimmy. "Ich bin so froh, euch kennengelernt zu haben", sage ich. Beide nicken. "Alex, was ich dir schon immer mal sagen wollte", fängt Jimmy plötzlich an, "unser Bruder ist während der Revolution gestorben. Harry war sein Name. Und für mich warst du immer wie ein zweiter großer Bruder. Ich danke dir dafür." Alex lächelt vor sich hin. "Und ich danke dir, dass du mir verziehen hast, Jimmy." Ich lächele. Es ist gut, dass wir nicht zerstritten auseinander gehen.
Als die Sonne aufgegangen ist und sich immer noch nichts regt, werde ich unruhig. Wo bleibt unser Festmahl? Eigentlich kann ich es zwar nicht gebrauchen, aber zusätzliche Dinge zu haben, die ich benötige, ist immer gut. Ich stupse Alex an. "Sicher, dass er Füllhorn gesagt hat?", frage ich. Er nickt. Jimmy, der meine Frage auch gehört haben muss, nickt genauso. Ich schaue wieder nach vorne. Und auf dem Füllhorn, ich kann es kaum glauben, steht Hanna, das Mädchen aus Distrikt 7. "Es wird kein Festmahl geben. Wir sind das Festmahl. Ihr seid die Sache, die ich benötige. Ich bin ein Teil der Sache, die ihr benötigt", ruft sie. Alex hatte recht, sie ist verdammt klug. "Kommt raus, damit wir sehen können, wer von uns der Stärkste ist. Alexander Frazier, ich weiß, dass du hier bist, zeig dich!" Alex zuckt kurz, aber dann steht er auf. "Ich liebe dich", flüstert er kurz in mein Ohr. Ich streichele ihm kurz über seine Hand, dann helfe ich Jimmy auf. "Viel Glück", murmelt er. Ich nicke. Dann lösen wir uns aus dem Schatten.
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Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung
FanfictionPanem, ein Jahr nach Kriegsende. Das Kapitol gestürzt, alle Bewohner auf die Distrikte verteilt. Lilly Eisenberg, 15 Jahre alt, lebt mit ihrer Familie in Distrikt 5. Eigentlich geht es ihnen gut, wenn da nicht dieser eine Tag wäre. Der Tag der Ernte...