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Alex und ich warten auf Jimmy, der sich noch durch ein paar Bäumen hindurchzwängen muss, dann setzen wir unsere Wanderung fort. Doch weil wir jetzt immer aufpassen müssen, wo wir unsere Füße hinsetzen, wird es noch mühsamer, voranzukommen. Ich zittere immer mehr und mit jedem Schritt wird es schwerer, meine Füße zu heben. Ich hatte mich überschätzt. Dachte, ich könne noch zwei Tage durchhalten. Hätte diese Zeit, um zu suchen. Aber das hier wird mir den Rest geben. Wenn jetzt nicht ein Wunder geschieht.

Die Sonne steht nicht mehr hoch am Himmel, als ich auf den Boden falle. Sofort hockt Jimmy an meiner Seite, spricht mir Mut zu. Doch ich schüttele den Kopf. "Geht alleine weiter", presse ich heraus,"vielleicht schafft ihr es ja, Wasser zu finden. Ihr müsst zusammenhalten." Zu meiner Überraschung ruft Alex dazwischen. "Niemals! Ich bleibe bei dir, Lilly. Jimmy, dir geht es noch am besten. Geh weiter, du wirst schneller sein ohne uns", sagt er und setzt sich neben mich. Nach einigen kleinen Diskussionen macht sich Jimmy auf den Weg. Erst, als er von den Bäumen verschluckt wird, kommt mir der Gedanke, dass das vielleicht das letzte Mal war, dass ich ihn je gesehen habe. Aber wenn das der Preis dafür ist, dass er überleben kann, nehme ich das gerne in Kauf. Ich lege meinen Kopf auf Alex' Brust und er lässt mich gewähren. Ich spüre jeden seiner Atemzüge und sie lassen mich ruhiger werden. Vielleicht ist das aber auch eine Nebenwirkung meines bevorstehenden Todes. Aber ich will irgendwie, dass es Alex ist, der mich ruhiger werden lässt. Weil ich Alex wirklich mag. Weil es nicht fair ist, dass ich ausgerechnet in den Hungerspielen die Person treffen muss, die mir beim Sterben Gesellschaft leistet und deshalb vielleicht selbst stirbt. Dass ich jetzt der Person begegne, der ich mein Leben anvertraue. Irgendwie glaube ich, dass Alex mich versteht. Dass wir uns ähnlich sind. Vielleicht bin ich ihm noch ähnlicher als Jimmy. Ich weiß, dass ich so nicht denken sollte, aber ich tue es. Und ich tue es gerne. Ich bin mir bewusst, dass er sterben muss, wenn ich mein Ziel durchsetze, wenn ich es durchsetze. Aber das muss ich, das hat Jimmy verdient. Alex kann mir dann im Reich der Toten Gesellschaft leisten. Wenn es so etwas überhaupt gibt. Aber ich habe keine andere Wahl, als mich an diese Hoffnung zu klammern. Irgendwann werde ich zu schwach zum Nachdenken.

Das nächste, was ich spüre, ist eine Hand, die mir den Mund öffnet. Gedämpft höre ich Stimmen. Du träumst, Lilly!, denke ich. Aber das Wasser, das langsam auf meine Zunge prallt, ist nicht erträumt. Es ist echt. Langsam breitet sich die Flüssigkeit auf meiner Zunge aus, aber es folgt mehr. Irgendwann spüre ich meinen Mund wieder. Jimmy hat es geschafft! Oder träume ich doch? Unter großer Anstrengung öffne ich meine Augen. Die Sonne wird bald untergehen und es ist schon ziemlich dunkel, aber Jimmys blaue Augen leuchten. Er kniet über mir und träufelt immer weiter Wasser in meinen Mund. Mein Kopf liegt inzwischen nicht mehr auf Alex' Brust, aber als ich mich etwas drehe, um ihn zu sehen, sehe ich die gleiche Freude wie in Jimmys Gesicht. "Wo ist es?", frage ich Jimmy, als ich das Gefühl habe, wieder reden zu können. Jimmy nickt in eine unbestimmte Richtung. Ich richte mich etwas weiter auf. "Dann lasst uns dahin gehen. Jetzt", füge ich hinzu, als ich den Zweifel in Jimmys Gesichtsausdruck sehe. "Bist du sicher, dass du das schaffst?", fragt Alex sanft. Ich richte mich entschlossen noch etwas weiter auf und nicke. "Ja, das bin ich", sage ich. Jimmy tauscht einen Blick mit Alex, dieser zuckt mit den Schultern. "Wenn sie sich stark genug fühlt", meint er und steht auf.

Nach etwa einer halben Stunde stehen wir vor einem kleinen Bächlein mit dem klarsten Wasser, das ich je zu Gesicht bekommen habe. Ich stoße einen leisen Jubelschrei aus, springe in den Bach.

Als ich vollständig regeneriert bin, suchen wir uns einen Lagerplatz. Unsere Wahl fällt auf eine von Bäumen umgebene Lichtung ungefähr 300 Meter vom Wasser entfernt. Die Hymne ertönt und wir schauen zum Himmel. Die Kanone, von der mir Alex am Morgen erzählt hat, habe ich ganz vergessen, weshalb ich überrascht bin, als das Mädchen aus Distrikt 10 am Himmel erscheint. Doch das waren alle Toten. Ich schätze, dass es jetzt länger dauern wird, bis wieder jemand stirbt. Jimmy und Alex gehen schlafen und ich übernehme freiwillig die erste Wache.

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt