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Am Himmel erscheint der Junge aus Distrikt 3. Er war es also, dessen Kanone wir heute gehört haben. Ich schaue sein Bild an, ganz genau, und merke, wie wenig ich ihn beachtet habe. Er war ziemlich schmächtig und klein. Besonders klug wirkte er auch nicht. Wie hat er es dann so lange überleben können? Hat er sich mit jemandem verbündet? Aber wer verbündet sich mit jemandem wie ihm? Ich hätte es nicht getan. Die Karrieros oder Hanna können es auch kaum gewesen sein. Sind schon einmal fünf weg. Bleibt noch das Mädchen aus Distrikt 9 und der Tribut, der mir heute Morgen nicht einfallen wollte. Ich glaube, es ist der Junge aus 8. Das Mädchen aus Distrikt 9 habe ich relativ schwach in Erinnerung. Vielleicht haben sich die beiden zusammengetan und sie hat ihn jetzt getötet. Vielleicht waren es auch Mutationen. Ich bin noch auf keine getroffen, aber für das große Finale werden sich die Spielmacher schon etwas überlegt haben. Ich weiß nicht, ob ich Angst davor haben soll. Die Alternative wäre, vorher zu sterben. Und eigentlich möchte ich sichergehen, dass Jimmy wirklich überlebt. Er wird es nicht wollen. Er will sterben. Aber in ein paar Jahren wird er darüber hinweg gekommen sein. Er wird verstanden haben, dass ich ihn immer noch geliebt, obwohl die Hungerspiele uns getrennt haben. Wir sind nicht mehr unzertrennlich. Zwischen uns ist eine große Kluft und die wird sich nie mehr ganz schließen. Selbst wenn wir 80 Jahre alt würden, würde sich diese Kluft nicht schließen. Aber wenn wir beide 80 Jahre lang unbekümmert leben könnten, wäre die Schlucht nie entstanden.
Damals, als ich vielleicht sechs war, konnte ich mir nicht vorstellen, je einen Tag ohne Jimmy zu verbringen. Ich war von meinen Geschwistern abhängig. Mit anderen Kindern hatte ich kaum Kontakt. Weil es für mich sicher war, dass uns niemand würde trennen können. Hätte ich doch nur gewusst, wie schnell vier Tage trennen können. Jimmy will nur noch, dass sein Leben vorbei ist. Meine restliche Familie sieht mich nur noch auf einem Bildschirm. Aber dafür sehen sie alles. Vor Beginn dieser Hungerspiele hat man verkündet, dass man jetzt auch einem spezifischen Tribut folgen kann. Nicht nur die moderierte Konferenz. Sie werden jede Träne von mir gesehen haben. Gerade jetzt beobachten sie uns vielleicht. Es wird ihnen wehtun, uns so zerstört zu sehen. Zu sehen, wie das Band zwischen Jimmy und mir reißt.

Jemand stupst mich leicht an. Ich drehe mich verwundert um, es ist Alex. "Möchtest du noch lange den Himmel angucken oder vielleicht auch wieder nach unten schauen?", fragt er. Eigentlich möchte ich sagen, dass mir der Himmel lieber ist. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich ihn nur noch wenige Male sehen werde. Die vielen Sterne, die ich so gern mag, haben schon andere vor mir gesehen und geliebt. Manche haben sie genauer erforscht, andere nur angeschaut. Die meisten Menschen, die die Sterne angeschaut haben, sind inzwischen tot. Aber die Sterne haben weiter existiert. Die Sterne werden auch nach meinem Tod weiterhin existieren. Sie werden andere Leute faszinieren. Und diese werden nie wissen, dass ich in dieser Nacht unter diesen Sternen stand und über sie nachgedacht habe. Alles wird ohne mich weitergehen. Für die meisten werde ich nur ein weiterer gefallener Tribut sein. Ich stamme aus dem Kapitol. Ich habe das verdient. Ich bin nicht wichtig. Vielleicht werde ich der letzte tote Tribut der Welt sein. Aber für die Lebenden zählen auch nur die Lebenden. Wer erinnert sich heute noch an die Tribute der 64. Hungerspiele? Der Sieger würde vielen wohl noch einfallen, aber wer war sein letzter Gegner? Und wie sah das Mädchen aus Distrikt 12 aus? Das alles hat niemanden je interessiert. Sobald dieses Mädchen gestorben war, war es unwichtig. Wer sie war hat niemanden interessiert. Außer ihren Verwandten und Freunden hat niemand um sie getrauert. Und so wird es auch mit mir sein. Jimmy wird die Erinnerung an mich vielleicht etwas länger aufrecht erhalten können, aber irgendwann bin ich aus ihren Gedächtnissen verschwunden. Ich will nicht so sterben.
"Ach, ich glaube ich entscheide mich für die Höhe deiner Augen", antworte ich und taste nach Alex' Hand. "Hab dich lieb", füge ich hinzu. Er lächelt. "Stell dir vor, Lilly, ich dich auch." Ich schlage gespielt verwundert die Hand vor den Mund. "Wirklich? Das hätte ich niemals gedacht!" "Tja...", sagt er mit dem Alex-Lächeln auf den Lippen. Es ist schön, es wieder zu sehen. "Hast du eigentlich einen Zweitnamen?", fragt er mich nach einer kurzen, aber magischen Pause. Ich nicke. "Amelie." "Die Tapfere", murmelt er. "Wer ist tapfer?", frage ich. "Du. Amelie heißt 'die Tapfere'", antwortet er verträumt. "Echt? Woher weißt du das?" Er zuckt mit den Schultern. "Weiß es halt", sagt er. Ich lächele. Ich glaube, er weiß noch viel, viel mehr. Ich glaube, er ist mehr, als er zugeben würde.

Jimmy sitzt wieder alleine da, starrt in die Ferne und beachtet uns kaum. Wir haben kaum miteinander geredet, seit ich mich ihm am Morgen ausgesprochen habe. Es tut mir immer noch weh, ihn so einsam zu sehen. Leise setze ich mich zu ihm. "Wie geht's?", frage ich. Er dreht sich verwundert, offenbar hat er mich erst jetzt bemerkt. Woran er wohl gedacht hat? Ich befürchte, es war nichts Schönes... "Was hast du gesagt?" "Ich hab dich nur gefragt, wie es dir geht", sage ich. Er bedenkt mich mit einem selbsterklärenden Blick. Ich weiß genau, wie es ihm geht. "Ich hab dich immer noch lieb", flüstere ich. Er nickt. "Ich glaube, ich auch", antwortet er. Früher hätte er ohne Zögern Ich dich auch gesagt. Jetzt glaubt er es nur. "Vielleicht sollten wir Alex gewinnen lassen", murmelt er. Bei dem Gedanken, Alex zurücklassen zu müssen, zucke ich kurz zusammen. "Tut mir leid", sagt Jimmy schnell, aber ich höre, dass ich ihn schon wieder verletzt. "Dir muss nichts leidtun, Jimmy", sage ich. Er legt seinen Kopf auf meine Schulter. "Liebst du ihn, Lilly?" "Ja, ja, ich liebe ihn, Jimmy. Das ist nur die Wahrheit." "Es ist gut, dass du die Wahrheit sagst, Lilly. Wie kannst du dir so sicher sein, dass du ihn liebst?", fragt er weiter. "Ich spüre es einfach. Es fühlt sich an, als würden wir beide schon seit dem Beginn des Universums zusammengehören. So ähnlich wie du und ich", antworte ich. "Es mal taten", führt Jimmy den Satz zu Ende. Ich nicke, weil er recht hat. "Aber am Anfang warst du doch nicht in Alex verliebt, wie kannst du dir also so sicher sein, dass..." "Am Anfang wollte ich es nicht spüren. Ich habe mich nicht getraut, irgendetwas zu spüren. Ich konnte ihn nur als einen Feind sehen, eine andere Option gab es einfach nicht", antworte ich. Wie lange das schon her ist. Damals, als mein einziges Problem war, dass ich sterben werde. Als ich noch alle hassen konnte. Meine Gedanken wandern weiter zum Beginn der Hungerspiele. Als ich Alex in der Scheune gefunden habe. Hätte ich damals zugedrückt, wäre es immer noch so einfach. Aber hätte ich damals mein Messer in seinen Hals gerammt, wäre ich wahrscheinlich unglücklich gestorben. So kann ich sagen, dass ich eine Person in meinem Leben wirklich glücklich gemacht habe. Eigentlich hätte ich zwei Personen glücklich machen müssen. Mindestens. Und eigentlich müsste Jimmy ganz oben auf der Liste stehen. Stattdessen habe ich mein eigenes Wohlergehen vor seins gestellt. Ich bin so egoistisch. Und dumm. Wäre doch nur irgendetwas anders gekommen... hätte Katniss bei der Ernte den Zettel neben meinem genommen. Und den unter Jimmys. Dann säßen wir jetzt zu sechst vor dem Fernseher, würden den Tributen beim Kämpfen zuschauen und dann einfach Essen machen. Ob meine Familie interviewt wurde, wie sie das eigentlich immer machen? Was haben sie wohl gesagt. Wurde Quintus auch interviewt? Oder Martoria? Ich hoffe, sie haben sie nichts Persönliches erzählt. Ich gebe Panem meinen Tod, sie sollen nicht auch noch mein Leben bekommen.

Jimmy nickt. "Ich wünschte nur, ich hätte auch jemanden, dem ich mich immer aussprechen kann. Dem ich am wichtigsten in seinem Leben bin", murmelt er. Oh, es tut so weh, ihn so zu sehen. Früher wäre er sofort zu mir gegangen. Aber was hilft mir, was er früher gemacht hat... "Jimmy, du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst. Und du weißt, dass ich mit meinen Problemen sofort zu dir kommen würde, wenn ich der Meinung wäre, dass du mir helfen kannst." "Ja, das weiß ich, Lilly. Aber hier hat mir keiner wirklich geholfen. Ihr wart mit euch beschäftigt, das nehme ich euch auch gar nicht übel, ich freue mich für dich, dass du den Jungen gefunden hast. Aber ich habe auch Probleme. Und das hast du zu spät bemerkt. Ich mache dir überhaupt keinen Vorwurf, wirklich nicht, aber du hast es nun einmal verpasst. Jetzt kannst du mir, so sehr du es auch willst, nicht mehr helfen. Es tut mir leid, Lilly." So weit ist es also mit uns gekommen. Sogar Jimmy weiß, dass ich es verhauen habe. Er ist auch noch in der Lage, es laut auszusprechen. Dinge, die einen verletzt haben, laut auszusprechen kostet viel Überwindung. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Dinge, die einen verletzt haben, laut auszusprechen braucht Zeit. Wie lange setzt sich Jimmy also schon mit diesem Thema auseinandersetzen muss... "Jimmy, erinnerst du dich noch an den Abend vor den Hungerspielen?", frage ich Er nickt. "Als wir uns Geschichten erzählt haben?" "Genau", sage ich. "Weißt du, an diesem Abend war ich so glücklich. Ich dachte, wie sehr ich dich liebe. Und dass ich niemals ohne dich auskommen könnte. Jimmy, ich dachte, nichts könnte uns trennen." Er schaut irgendwo in die Ferne. Nach einer kleinen Pause, die überhaupt nichts Magisches an sich hatte, fahre ich fort. "Und jetzt sitzen wir hier, nur wenige Tage später, und du erzählst mir, dass ich es verpasst habe, dir zu helfen. Dass ich dich im Stich gelassen habe. Jimmy, es tut so unendlich weh. Es tut so unendlich weh, weil ich weiß, dass es stimmt." Je länger ich rede, desto leiser werde ich. Je länger ich rede, desto mehr Tränen sammeln sich in meinen Augen.
Jimmy dreht sich langsam zu mir um. Er sieht mich lange an, sagt aber nichts. Dann rollt eine Träne über seine Wange. "Ich hätte im Feuer ersticken sollen, als unsere Hütte gebrannt hat", sagt er nur.

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt