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_Kaetzchen_

Noch schläfrig setze ich mich auf. "Alex? Jimmy?", frage ich leise. "Hier", antworten beide gleichzeitig. Ich lächele nicht, bin zu aufgeregt. "Was ist denn, Lilly?" Doch bevor ich antworten kann, bricht etwas durch die Zweige. Wir drehen uns um, ich versuche, so schnell wie möglich aus meinem Schlafsack zu kommen, denn vor uns steht der Justin. Ich zittere. Mein Puls rast. Jetzt ist es aus, denke ich. Mein linkes Bein bleibt im Schlafsack hängen, ich bin zu angespannt, um es wieder rauszukriegen. Meine Hände rutschen ab, sie sind zu schweißig, und mit jeder Sekunde werde ich panischer. Ich spüre Justin Wilkinsons Blick auf mir ruhen. Jeden Moment kann er angreifen. Hoffentlich geht es schnell. Endlich habe ich mich aus meinem Schlafsack befreit. Justin schweigt immer noch. Ich stelle mich aufrecht hin und schaue ihm fest in die Augen. Jedenfalls versuche ich, ihm fest in die Augen zu schauen. Höchstwahrscheinlich ähnelt mein Blick dem von gehetztem Wild, das den Jäger auf sich zukommen sieht und keinen Ausweg mehr hat. Justin dreht seinen Kopf nach hinten, während ich möglichst unauffällig ein Messer aus meinem Gürtel ziehe. Plötzlich knacken weitere Zweige. Und dann stehen vier Karrieros vor uns. "Machen wir sie kalt", sagt Justin mit einer gefühlslosen Stimme. Der Satz durchschneidet förmlich die Luft. Mir bleibt nur noch Zeit, Jimmys Hand zu ergreifen, als sie schon losstürmen. Ich bin wie erstarrt. Alex packt meinen Arm und zieht mich zu dem Baum, auf dem ich gestern noch geschlafen habe. Vielleicht ist es auch ein anderer, ich habe keine Zeit, den Baum zu analysieren, denn sie können uns jederzeit töten. Eigentlich komisch, dass sie es noch nicht getan haben. "Lilly, ich klettere vor", ruft Alex und ich nicke. Dann drehe ich mich zu Jimmy und sehe das, was ich erwartet habe. Panik. Er kann nicht klettern. "Du schaffst das", flüstere ich, dann fange ich selber an, den Baum hinaufzuklettern. 

Ich bin ungefähr bei der Hälfte angelangt, als ich mich auf einem Ast ausruhe und zum ersten Mal nach unten schaue. Tatsächlich, Jimmy klettert! Er hat schon ein Viertel der Strecke geschafft. Unten stehen die Karrieros und beraten sich. Jimmy muss jetzt schnell sein, viel Zeit bleibt ihm nicht. Aber ich halte mich zurück, will ihn nicht durcheinander bringen. Ich schaue nach oben und sehe die Sohle von Alex' Turnschuhen. Ich merke zum ersten Mal, was Alex für kleine Füße hat. Im Vergleich zum Rest seines Körpers jedenfalls.

Ein Schrei reißt mich aus meinen Gedanken. Ich schaue nach unten und sehe, wie Jimmy vom Baum gezogen wird. Jetzt, denke ich noch, dann stoße ich mich vom Ast ab.
Ich will mich vom Ast abstoßen. Alex hält meinen Jackenärmel mit eisernem Griff. Ich will mich losreißen, aber schnell sehe ich ein, dass ich dann Alex mit vom Baum ziehen würde. Er könnte seinen Fall nicht steuern. "Lass los", schreie ich ihn an. Er hält seinen Zeigefinger senkrecht vor den Mund. Da unten stirbt mein Bruder, will ich sagen, ich muss ihn retten. Jetzt. Aber ich sage es nicht. Alex umrundet den Baumstamm zur Hälfte, ohne seinen Griff zu lockern. Ich sehe Jimmy unten, sich gegen die vier Karrieros verteidigend. Eines der drei Mädchen liegt auf dem Boden, aber ich kann nicht erkennen, aus welchem Distrikt sie kommt. Die aus 7 ist es jedenfalls nicht, die kämpft verbissen. Justin ruft den anderen etwas zu, aber was kann ich nicht verstehen. Alex wirft mir einen Blick zu. "Sie werden ihn einkreisen", flüstert er,"und dann greifen wir an." "Von oben?" "Möchtest du runterspringen?" Ich schüttele den Kopf. Dann kommt mir ein Gedanke. Es ist kein schöner Gedanke. "Was ist, wenn wir aus Versehen ihn treffen?" Alex zuckt mit den Schultern. "Erstens werden wir das nicht, weil wir beide viel zu gut dafür sind. Zweitens ist er sicher tot, wenn wir nichts tun und so können wir zumindest ein paar von den Karrieros umlegen." Wie aufs Stichwort ertönt eine Kanone. Offensichtlich ist das Mädchen gerade gestorben. Inzwischen haben sie Jimmy eingekreist. "Auf mein Stichwort", zischt Alex. Ein paar Sekunden vergehen. Alex spannt sorgfältig seinen Bogen, ich nehme das Mädchen aus Distrikt 1 oder 2 ins Visier. "Jetzt!" Ich werfe. Die Sehne gibt einen Laut von sich, als sie zurückschnappt. Wir haben beide auf den gleichen Tribut gezielt. Damit kämpft Jimmy immer noch gegen zwei Tribute. Die Kanone ertönt. Und ich weiß, dass ich runter muss. Dass Alex mich diesmal nicht zurückhalten kann.

Ich hab keine Zeit, zu klettern. Ich muss zwei Meter tief springen. Vielleicht sind es auch mehr. Ich hole tief Luft. Spanne meine Muskeln an. Plötzlich bin ich ganz ruhig. Dann fliege ich.
Der Aufprall ist hart. Langsam richte ich mich auf. Mein rechtes Bein tut etwas weh, aber ich kann noch laufen. Ich packe ein Messer und renne zu Jimmy. Beziehungsweise zu Justin. Ich will nur noch das Messer in seinem Körper sehen.
Sein Schrei ist geradezu beruhigend. Ich lächele kühl. Ich habe zwar nur das Bein getroffen, aber das reicht ihm, um von Jimmy abzulassen. Ich drehe mich um und sehe, dass das Mädchen aus 7 schon längst das Weite gesucht hat. Kluge Entscheidung.
Ein Pfeil zischt durch die Luft, kurz über Justins Kopf fliegt er vorbei. Das scheint ihm zu reichen und auch er verschwindet humpelnd aus unserem Blickfeld. Ich will ihm nachrennen, aber Jimmy hält mich sanft zurück. "Lass gut sein", murmelt er. "Lass uns lieber mal schauen, was wir davon haben." Er nickt in Richtung der beiden Leichen. Ich nicke und gehe zu der am Rand der Lichtung. Von dem Mädchen, das zuerst gestorben ist. Ein Schauer durchläuft mich, als ich in ihr Gesicht schaue. Es ist das Mädchen aus Distrikt 1. Ihre Augen sind starr, aber weit aufgerissen. An ihrem Kinn klebt getrocknetes Blut. Es kommt aus ihrem Mund. Die Haare sind zerzaust. Ich blicke an ihrem Körper herunter, in ihrem Bauch ist eine große Wunde. Sie hat das nicht verdient. Sie tut mir leid. Ich hocke mich neben sie. Und leise fange ich an, das Lied zu singen, das sie nie hören wird.

What a wonderful day
To lose it all
Lose it all

What a wonderful way
To choose to fall
Choose to fall

It’s all for the best
For all I know
But oh what a way to go

What a beautiful mess
That we are in
To our chins

How did we get to this place?
Once again
My old friend

It’s all for the best
For all I know
Oh what a way to go

It’s all for the best
For all I know
Oh what a way to go

Ich musste es tun. Auch wenn wir Feinde waren. Wenn wir uns in einer anderen Situation kennengelernt hätten, wäre es vielleicht alles anders gekommen. Aber es ist nichts anders gekommen. Wir haben keinen anderen Weg, den wir gehen können. Wir haben diesen Weg, und dieser Weg führt durch die Hungerspiele. Ihr Weg ist schon zu Ende. Wie so viele. Aber vielleicht ist es gut so. Schließlich enden alle Wege. Wir alle sterben einmal.
Was sie wohl gedacht hat, in ihren letzten Momenten? Niemand hat ihr beigestanden. Sie haben einfach weitergekämpft. Waren ihre Gedanken bei ihrer Familie? Hatte sie einen Freund? Oder hat sie sich einfach nur gewünscht, dass sie sich nicht freiwillig gemeldet hätte? Oder hat sie ihr Leben an sich vorbeiziehen sehen? Was waren die Momente, die sie in den Tod begleitet haben? Waren es schöne Erinnerungen? Ich beuge mich vor, um ihre Augen zu schließen. Das ist das Mindeste, was ich für sie machen kann. Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, soll sie wissen, dass ich das nicht wollte. Zumindest ihre Familie soll es sehen. Als ich so nah über ihrem Gesicht schwebe, sehe ich eine getrocknete Träne auf ihrer Wange. "Ruhe in Frieden", flüstere ich, dann schließe ich ihre Augen. Ihr jetzt noch ihre Sachen abzunehmen, das kann ich irgendwie nicht über mich bringen. Ich stehe auf und wende mich ab. "Sie hat nichts Relevantes", sage ich mit möglichst fester Stimme. "Gut, dann lasst uns weg hier, damit sie die Leichen einsammeln können." Ich nicke, werfe einen letzten Blick zurück und folge dann Jimmy und Alex zurück in den Wald. Bald darauf sehen wir das Hovercraft am Himmel auftauchen und zwei Leitern ausfahren. Ich wünsche den Mädchen leise eine gute Reise und denke, dass mir wahrscheinlich niemand eine gute Reise wünschen wird. "Lasst uns noch einmal zum Bach und dann tiefer in den Wald", schlägt Alex vor. Ich nicke. Mehr oder weniger verletzt wandern wir zum Bach, der uns einmal das Leben gerettet hat. Ich lege meine Sachen auf dem Stein ab, auf dem Alex und ich erst gestern gelegen haben. Als ich genug getrunken habe, lege ich mich genauso wie gestern wieder in die Sonne. Und Alex legt sich neben mich. "Schöne Stimme hast du", flüstert er.

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Das Lied, das Lilly singt ist nicht von mir, sondern von John Paul White, der Titel ist What a Way to go. Nur damit das klar ist. Ich kenne es aus der Serie True Detective. Hört es euch doch mal an ;)

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt