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Ich will mich auf meinem Arm abstützen. Doch während ich mich aufrappele, spüre ich einen stechenden Schmerz. Und ich weiß, was das ist: Muskelkater. Tja, liebe Spielmacher, außer den Karrieros wird wohl keiner von uns eine anständige Leistung abliefern können und das liegt vielleicht daran, dass man uns in den Distrikten vergammeln lässt statt irgendeinen Nutzen aus uns zu ziehen oder uns zumindest irgendwie in die Gemeinschaft einzubeziehen.
Da mir eh nichts anderes übrig bleibt als aufzustehen, versuche ich, Jimmy möglichst nicht auch zu wecken. Jedes Stöhnen seinerseits lässt mich erstarren. Jedes Schnarchen wieder aufatmen. Ganz vorsichtig schleiche ich im Zimmer umher und mache mich fertig. Irgendwo sammle ich meine Kette wieder auf. Erst als ich fertig angezogen bin und mir eine Pferdeschwanz gemacht habe, wecke ich Jimmy. Er schlägt verwundert die blauen Augen auf, als ihn meine Haare im Gesicht kitzeln. Er wischt sie sich aus dem Gesicht und grinst  mich an. "Guten Morgen, Lilly und schön, dass du mich auf diese angenehme Art geweckt hat." Sofort landen meine Haare in seinem Gesicht. "Jederzeit, Bruderherz", erwidere ich lachend. "Ich geh dann mal rüber mich anziehen." Mit diesen Worten geht er aus dem Raum. Jimmy sieht im Schlaf viel schöner aus als im wachen Zustand. Aus seinem Gesicht weicht die Angespanntheit, der Stress und die Resignation der letzten Tage. Er sieht aus, wie der Jimmy, den ich kenne und liebe. Der Jimmy, der es verdient hat zu leben.

Während ich auf meinen Bruder warte, setze ich mich auf das Bett. Wäre ich zu Hause, würde ich jetzt ein Buch lesen. Wahrscheinlich eins, das ich schon vorher einmal gelesen habe, dann weiß ich zumindest, dass es mir gefällt. Aber hier habe ich kein Buch. Und ich starre die Wand an. Doch sie ist einfach steril weiß. Ohne Makel. Deprimierend weiß. Ich will immer noch nach Hause, obwohl ich mich mit den Hungerspielen abgefunden habe. Aber ich würde alles dafür geben, jetzt Natasha, Sally, Mary und Papa zu sehen, und das ohne das Wissen, dass es das letzte Mal ist. Irgendwann reißt mich ein energisches Klopfen aus meinen Gedanken. Vier Mal kurz, einmal lang. Jimmys Klopfzeichen. Ich springe auf, froh, dass ich etwas anderes machen kann, als die Wand anzustarren. "Ich komme", rufe ich noch, während ich meine Schuhe suche.

"Guten Morgen, ihr beiden", sagt Joanne freundlich. "Gut geschlafen?" Ich zucke mit den Schultern, mache mich stattdessen über das Frühstücksbuffet her. "Halbwegs", antwortet Jimmy an meiner Stelle. "Muskelkater", füge ich hinzu. Joanne verzieht das Gesicht. "Ihr Armen. Für das Training gilt das gleiche wie gestern?" Wir sind beide einverstanden. Nach einem ausgiebigen Frühstück müssen wir uns beeilen, dass wir nicht zu spät kommen.

Dieses Mal muss ich nicht noch etwas holen. Aber ich bin noch aufgeregter als gestern. Ich darf es mir nicht anmerken lassen, darf den kleinen Vorteil, den ich uns gestern verschaffen konnte, nicht einfach wieder verschwinden lassen. Es darf nicht passieren, dass ich unsicher wirke. Schwach. Verstört.
Diese Gedanken beruhigen nicht gerade. Jimmy, der immer spürt, wenn es mir nicht gut geht, legt mir eine Hand auf die Schulter. "Ich glaub an dich", flüstert er mir ins Ohr, als niemand zu uns schaut.

Im Fahrstuhl fröstelt es mich, obwohl es nicht kalt ist. Jimmy will mich gerade in den Arm nehmen, als sich die Aufzugtüren öffnen. Wir wissen beide, dass wir ab jetzt kritisch beäugt werden. Dass in jedem unserer Schritte versucht wird, etwas Schlechtes zu finden. Jetzt müssen wir zeigen, dass wir auch unabhängig voneinander stark sind.

Ohne eine Vorrede wird das Training angepfiffen und Jimmy schleift mich zum Bogenschießen. "Das wird dir liegen, Lilly, glaub mir", meint er energisch und weil ich weiß, dass ich mir nicht noch einen Wutausbruch wie gestern leisten darf, folge ich ihm. Verstohlen werfe ich einen Blick zur Spielmacherloge. Ja, da ist sie. Lass dir nichts anmerken, Lilly, das ist dir alles egal. Jimmy darf ich nicht darauf aufmerksam machen, wenn ich mich nur mit Mühe beherrschen kann, wird er es gar nicht können. Aber als ich mich ihm wieder zuwende, merke ich, wie auch er seinen Blick dorthin gerichtet hat, mit einem sorgenvollen Gesichtsausdruck. Jetzt liegt es an mir, die Situation zu retten. Ich ziehe ihn schnell weiter, mir fällt nichts besseres ein. Er zieht fragend die Augenbrauen hoch, ich weiß, dass er wissen will, ob ich sie gesehen habe, aber ich tue so, als habe ich es nicht bemerkt.

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt