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Ich werfe mich in letzter Sekunde in einen Busch am Wegesrand. Die schon teilweise verdorrten Blätter bieten nicht viel Schutz, aber vielleicht genug, um den Tribut zu täuschen, der eben gerade Blut vergossen hat. So wie ich das eben erkennen konnte, war es ein Mädchen, das getötet wurde. Noch elf Tribute in der Arena. Mindestens vier von ihnen sind hier in der Nähe. Ich höre Schritte und Gelächter. Neben mir hockt Alex und versucht angestrengt, genaueres zu erkennen. Ich kauere mich einfach zusammen und hoffe. Ich höre mich atmen. Es ist jedes Mal so: Ich versuche verzweifelt, leise zu sein und diesmal hängt sogar mein Leben davon ab, aber ich bin so aufgeregt, dass ich nicht leise atmen kann.

Als ich die Karrieros sehe, falle ich fast nach hinten um. Alex hält mich gerade noch fest. Vier muskolöse Jugendliche, bis an die Zähne bewaffnet. Ich hoffe, Jimmy hat sich gut versteckt. "Das war ja einfach", ruft ein Mädchen. "Ja, so könnte es immer laufen. Wenn ich nur die beiden aus 5 zu fassen bekäme", antwortet ein anderer. Justin. Ich schnappe nach Luft. "Ach, da brauchst du nur den Typen kaltzumachen. Die andere Trulla stirbt dann von selbst. Wenn ich schon an die denke:'Ach, ich bin ja so mutig und opfere mich für meinen hässlichen Zwillingsbruder!' Fürchterlich", antwortet das Mädchen von vorhin. Ich hoffe inständig, das Jimmy jetzt nicht aus seinem Versteck springt und das Mädchen attackiert. Auf Beleidigungen reagiert er schon immer besonders gereizt. Aber nichts passiert. "Lass uns weitergehen, vielleicht finden wir sie ja. Heute Nacht habe ich von den Holzhütten Rauch aufsteigen sehen. Wollen wir mal nachsehen?", fragt ein anderes Mädchen. Allgemeines Gejohle stellt dann wohl Zustimmung dar. Vier paar Füße stampft direkt vor uns vorbei, das Lachen und die Rufe werden immer leiser. Ich wage immer noch nicht, mich zu bewegen, erst, als fünf Minuten vergangen sind, in denen Stille herrschte. Ich stütze mich auf Alex ab und gemeinsam kämpfen wir uns durch den Busch. "Jimmy, bist du da?", frage ich, als ich endlich, zwar mit zerkratzten Armen und einem blutenden Kratzer auf der Wange, auf dem Weg stehe. Als endlich sein Gesicht zwischen den Zweigen auftaucht, fällt mir ein Stein vom Herzen. Ich stürze so schnell es mir mein Bein erlaubt auf ihn zu und falle ihm in die Arme. "Das war knapp", sagt er. "Ja, aber wir haben es geschafft, Jimmy", antworte ich. Erst, als wir uns lösen, merke ich, dass Alex die ganze Zeit nur danebenstand. "Ach, Alex", rufe ich,"komm her!" Er kann ein Lächeln nicht unterdrücken, als ich ihn in meine Arme schließe. Er ist so groß, dass ich mich auf die Zehenspitzen stellen muss, um mit meinem Kopf seine Schulter zu berühren. Alex sagt nichts. Irgendwann unterbricht Jimmy uns. "Ehe das hier noch zu einer Romanze ausartet, schlage ich euch vor, weiterzugehen." "Tja, Jimmy, du musst dich auch mal damit abfinden, Konkurrenz zu haben", neckt ihn Alex. Die beiden haben endlich gelernt, sich soweit zu respektieren, dass sie auch mal Späße machen. Ich lache. Ich mag Alex, sicher, aber ich kann ihn nicht auf diese Weise lieben. Schon gar nicht in der Arena. Aber ich muss Jimmy zustimmen, wir sollten besser so schnell wie möglich von hier verschwinden. Also humpele ich weiter, versuche, die Schmerzen so gut wie möglich zu ignorieren.

Es dämmert schon, als wir vor dem Zaun stehen. Große Schilder hängen an dem mindestens sechs Meter Gitter, die vor Hochspannung und dem Wald warnen. "Und was machen wir jetzt?", fragt Alex. Ich zucke mit den Schultern und setze mich frustriert auf einen Stein. Alles war umsonst. Die Schmerzen, das Risiko. Jimmy sagt nichts. Er läuft immer im Kreis umher, die ganze Zeit. "Sag mal, Kumpel, ist dir nicht langsam schwindelig?", fragt Alex irgendwann in die bedrückende Stille hinein. Jimmy hält nur kurz inne, dann läuft er weiter umher. "Nicht besonders. Irgendwie müssen die anderen hier durch gekommen sein. Aber wie?" "Woher willst du wissen, dass sie auf der anderen Seite sind?", frage ich. "Ach, ich weiß es halt", kommt die genervte Antwort. Ich habe keine Lust, mich mit ihm anzulegen, also schweige ich. Stattdessen lese ich mir die Warnschilder wieder und wieder durch. Warnung, der Zaun steht unter Strom! und Achtung, Hochspannung! tut seine Wirkung. Schließlich fange ich eine Unterhaltung mit Alex an, der sich neben mich gesetzt hat. "Alex?", frage ich vorsichtig, aus Angst, er könne genauso reagieren, wie Jimmy. "Was ist?", fragt er müde. "Ach egal", meine ich enttäuscht. Doch Alex scheint neugierig geworden zu sein. "Sag schon, Lilly!" Ich lächele in mich hinein. "Nein, ich habe mich nur gefragt... als ich dich in der Scheune gefunden habe, da wusstest du, wo wir sind", Alex nickt langsam,"woher?" Alex legt den Kopf schief. "Ich habe mich eine ganze Weile für die Distriktkultur interessiert. Und um das richtig gut zu verstehen, hatte ich von jedem Distrikt eine Karte. Ich habe ihnen nie große Beachtung geschenkt, aber als ich da oben auf der Plattform stand, wusste ich sofort, wo ich bin. Woher wusstest du es denn?" "Schule...." Alex lächelt kurz. Ich glaube, er mag es, wenn ich nichts tolles vorzuweisen habe. "Apropos, Lilly, kannst du uns vielleicht eine Karte zeichnen?" "Ähh... ich weiß nicht, ob ich das so gut kann...", stammele ich. "Ach, Lilly, stell dein Licht nicht unter den Scheffel!", meldet sich plötzlich Jimmy zu Wort. An Alex gewandt fährt er fort:"Sie kann toll zeichnen. Und spätestens nach drei Tagen hier ist alles, was wir gelernt haben, wieder in ihren Kopf zurückgekehrt." Ich senke den Blick. Das ist so typisch Jimmy. "Na, wenn das so ist", murmelt Alex ein bisschen verwirrt,"reicht dir ein Blatt von einem Baum?" "Wenn es Papier ist", sage ich in einem verzweifelten Versuch, die Situation aufzulockern. "Nein, ich meine Laub", antwortet Alex. Ich zucke mit den Schultern. "Wo willst du denn welches herkriegen?" "Lilly, wie auch immer du mit Nachnamen heißt..." "Eisenberg", unterbreche ich ihn,"hat Jimmy schon mehrmals erwähnt." "Dann eben Lilly Eisenberg, hinter dir hat jemand einen Busch gepflanzt, der relativ große Blätter hat. Wenn du dich umdrehst, kannst du das Kunstwerk mit eigenen Augen bestaunen", fährt Alex fort. Ich fahre herum und tatsächlich steht hinter mir ein Busch. Ich versuche, wenig darauf einzugehen, dass mir das nicht aufgefallen ist, weil ich immer noch fürchte, dass die Leute dahinterkommen könnten, wie geschwächt ich bin. "Nun, Herr Museumsleiter, womit soll ich bitte malen?" Alex bückt sich und hebt einem Stock auf. Er reicht ihn mir mit einem schelmischen Lächeln. Das kann ja heiter werden. Ich ziehe ein Messer aus meinem Gürtel und spitze das eine Ende des Stocks ein wenig an. Dann versuche ich, mir alles ins Gedächtnis zu rufen, was ich je über Distrikt 12 wusste.

Zwei Blätter zerreiße ich, erst im dritten Versuch verstehe ich, wie stark ich aufdrücken muss. Langsam wächst Distrikt 12 auf dem grünen Untergrund. Da, wo erst nur das Füllhorn stand, ist bald auch das Armenviertel. Ich wusste auch mal, wie dieser Teil von den Bewohnern genannt wurde, aber erst durch Jimmy fällt mir der Begriff wieder ein. Der Saum. Dieser Bereich ist tatsächlich etwas wie der Saum eines Kleides. Der Teil, der nur eine Nebenwirkung ist, der ruhig dreckig werden kann. Bald habe ich auch den reicheren Teil der kleinen Stadt gezeichnet und alles beschriftet. Ganz am Rand deute ich den Wald an. Als ich endlich fertig bin, gebe ich Alex, der mir die ganze Zeit interessiert zugeschaut hat, die Zeichnung. "Danke." Ich bin zu müde von der langen Wanderung, um etwas zu erwidern. Ein längere Phase folgt, in der man nur das Rauschen der Blätter auf der anderen Seite des Zauns hört. Ich habe mich gerade in eine bequeme Position gebracht und ein weiteres Mal die Salbe aufgetragen, als die Hymne ertönt. Heute habe ich zwei Mal die Kanone gehört. Tatsächlich erschienen auch zwei Gesichter am Himmel: Das Mädchen aus 6 und der Junge aus Distrikt 9. Heute ist der dritte Tag. Am ersten Tag sind zehn Tribute gestorben, gestern nur der Junge aus Distrikt 2 und heute noch einmal zwei. Insgesamt schon 13 Tribute, die ich überlebt habe. Noch elf übrig. Acht Leute sind nicht hier. Vier Karrieros. Aber... wieso denn vier Karrieros? Der Junge aus Distrikt 2 ist vor meinen Augen gestorben. Demnach ist nur noch das Mädchen aus Distrikt 2 übrig. Und beide aus 1. Wieso habe ich also vier Paar Füße vorbeilaufen sehen? Sie müssen noch jemanden aufgenommen haben. Jemanden, der stark ist. Ich gehe die Liste der Tribute durch, die etwas draufhaben könnten und außer Alex fällt mir nur seine Distriktpartnerin ein. Sie ist ohne Zweifel gefährlich. Und wenn sie wirklich bei den Karrieros ist, weiß auch sie von meinem kleinen Wutausbruch beim Training. Und das ist gar nicht gut.

Als es schon dunkel ist, reißt Alex mich aus meinen Gedanken. Jimmy sitzt inzwischen neben mir, ich habe meinen Kopf auf seine Schulter gelegt. "Lilly, weißt du was?", fragt Alex. Ich habe kaum Zeit, mich zu fragen, wieso er schon wieder mich anspricht, als er schon fortfährt. "Wir sind solche Vollidioten. Wenn das Ding wirklich unter Strom stünde..." "...hätten wir das gehört", beende ich seinen Satz. "Ja, so blöd können nur wir sein", füge ich hinzu. Jimmy, der offenbar in einen leichten Schlaf gefallen war, regt sich nun. Wie man im Sitzen schlafen kann, ist mir immer noch ein Rätsel, aber so müde, wie Jimmys Stimme klingt, als er uns fragt, ob wir denn dann nicht endlich rüber wollen, kann man es ihm kaum verübeln. Weil wir beide kein Argument gegen die Aktion liefern können, beginnt Jimmy, sich unter dem Gitter durchzuquetschen. Als nächstes bin ich dran und so gut es geht, robbe ich auf dem Gras entlang. Meine Wunde tut wieder entsetzlich weh, aber ich will immer noch nicht jammern. Alex schiebt unsere Rucksäcke unter dem Zaun durch, dann folgt er selbst. Zu dritt gehen wir auf den Wald zu.

Als wir den Wald betreten, umgeben sind von Bäumen, fühle ich mich das erste Mal in meinem Leben wirklich wohl. Und das hier sind die Hungerspiele.

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt