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Am nächsten Morgen bin ich ausgetrockneter denn je. Erst als ich den auf dem Boden sitzenden Alex sehe, fällt mir auf, dass ich die ganze Nacht geschlafen habe und nicht, wie abgemacht, irgendwann Wache gehalten habe. "Hey", sage ich vorsichtig,"warum hast du mich nicht geweckt?" Er öffnet ein Auge und zuckt mit den Schultern. "Du hast mir gefallen, als du geschlafen hast. Dann lächelst du nämlich", sagt er mit einem Augenzwinkern. Dann lächelt er selber und dieses Lächeln lässt mich unsere ganzen Probleme für einen Moment vergessen. Und ich lächele zurück und ich glaube, dass ist das erste Mal, dass ich lächele, seit wir in der Arena gelandet sind. Alex ist gestern Nacht eindeutig aufgetaut und versteckt sich nicht mehr hinter einer Fassade. "Lass uns losgehen! Oder hast du großen Hunger?", fragt er. "Nicht besonders. Nur Durst", antworte ich und beginne, unsere Sachen zu packen. Wir beschließen, einfach alles in den Rucksack zu stopfen, der angenehm schwarz ist und so nicht sofort zu sehen ist. Alex bietet sich an, ihn zu tragen und ich lasse ihn. "Meinst du, er ist hier irgendwo?", frage ich Alex nach einer Zeit, in der wir schweigend nebeneinander hergegangen sind. "Ja, ich denke schon. Wollen wir ein bisschen rennen?" "Ja, aber nicht zu lange, wir müssen immer an den Durst denken", antworte ich und beschleunige das Tempo. Während Alex es mir nachtut, rollt er mit seinen fast schwarzen Augen und bringt mich wieder zum Lächeln. Wir joggen also etwas umher, aber nirgendwo ist eine Spur menschlichen Lebens. Langsam bin ich geneigt, irgendwo anders zu suchen, aber ich spreche es nicht laut aus. Rufen will ich auch nicht, vielleicht sind hier in der Nähe die Karrieros, die uns in Sekundenschnelle erledigen würden. Vielleicht auch nicht in Sekundenschnelle, aus meinem Tod will Justin sicher etwas besonderes machen.
Während wir also weiter schweigen, überlege ich, wo Jimmy wohl sein könnte. Früher, im Kapitol haben wir öfter mal Hungerspiele gespielt. Jimmy hat das immer Spaß gemacht und er hat oft gewonnen. Gewonnen habe ich nur ganz selten, aber ich kam meistens relativ weit. Ich überlege fieberhaft, was Jimmys Strategie war. Ich erinnere mich an eine Menge aus diesen Spielen, aber mein Kopf will einfach nicht das über Jimmy preisgeben, was ich brauche. Ich zerbreche mir weiter den Kopf, achte kaum mehr auf meine Umgebung. Dann fällt mir etwas ein: Jimmy war immer in der Nähe eines großen Felsens oder eines Steins, hinter dem er gegebenenfalls Deckung suchen konnte. Inzwischen haben wir unser Tempo wieder verlangsamt. "Alex", rufe ich,"hast du hier irgendwo einen großen Stein gesehen?" Er überlegt. "Ja, irgendwo in der anderen Richtung, wieso?" "Kann man den vom Füllhorn aus sehen, Alex, kann man das?" Er zuckt mit den Schultern. "Wenn man danach sucht, schon. Er ist jetzt nicht gerade auffällig..." "Wir dürfen keine Zeit verlieren", antworte ich und beginne, zurück zu rennen. "Hierlang, richtig?", frage ich. Alex nickt, immer noch verwundert. "Erklär ich dir später", antworte ich knapp auf seine nicht gestellte Frage. So rennen wir beide weiter, stützen uns auf eine Annahme von mir, die keinerlei logische Gründe hat, nur ein Spiel von sorglosen Kindern. Wahrscheinlich hätten wir eben noch 50 Meter laufen müssen, dann hätten wir ihn gefunden. Aber das können wir nachher immer noch herausfinden, jetzt versuchen wir es erstmal so.  Je näher wir kommen, desto aufgeregter werde ich. Als ich den Brocken ungefähr 100 Meter von uns entfernt sehen kann, bremse ich etwas ab. "Lass uns jetzt lieber leiser sein", flüstere ich Alex zu. Er nickt und wir schleichen weiter, er hat den Bogen gespannt.

Nichts rührt sich, es ist genauso leer wie überall. Ich stehe zehn Meter vom Stein entfernt, ducke mich hinter einer Häuserecke. Ich will Alex schon sagen, dass wir umkehren können, als ich etwas Blaues sehe. Es ist nur ein kleines Stück, aber es ist exakt die Farbe meiner eigenen Jacke. Ich bedeute Alex, stehen zu bleiben und gehe auf das Blau zu. "Jimmy?", frage ich vorsichtig. Ein blonder Haarschopf lugt über den Stein herüber. "Lilly, bist du das?" "Wer soll es sonst sein? Komm raus!" Und zum ersten Mal seit dem Hovercraft sehe ich Jimmys Gesicht. Es ist ein bisschen dreckig, aber immer noch schön. Wir fallen uns in die Arme. Unauffällig schaue ich in Alex' Richtung und nicke. Hoffentlich versteht er, was ich will.
Als wir uns aus der Umarmung lösen, ist Jimmys Lächeln auf einmal erstarrt. Er zieht mich am Ärmel hinter den Stein. "Lilly, du bleibst hier. Da ist einer. Ich erledige ihn." "Wer ist denn da?" "Distrikt 7, der Junge", antwortet Jimmy. Ich halte ihn zurück. "Das ist unser Verbündeter." Jimmy wirft mir einen verwunderten Blick zu. "Lilly, das kann nicht dein Ernst sein", flüstert er. Ich zuckemit den Schultern. Manchmal kann Jimmy echt ungemütlich werden. "Es ist mein Ernst. Mein voller Ernst", erwidere ich so selbstsicher wie möglich. Aber Jimmy scheint sich plötzlich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren. "Lilly, da ist noch jemand! Auch noch dein Verbündeter?" Sofort spüre ich mein Herz, welches lauter klopft denn je. Ängstlich schüttele ich den Kopf. Wer könnte da sein? "Komisch, Lilly, jetzt ist da nichts mehr. Ich muss mich geirrt haben." Erleichtert atme ich auf. "Alex, komm doch rüber!", rufe ich, als ich sehe, dass er immer noch da steht. "Alex also?", fragt Jimmy als dieser vor ihm steht. Alex nickt. "Weil Lilly extrem sauer auf mich sein würde, wenn ich dich jetzt umbrächte... ich bin Jimmy. Wollt ihr mit in mein kleines Lager?", fragt Jimmy während er Alex die Hand gibt. Ohne auf eine Antwort zu warten geht er in ein Häuschen, das ungefähr fünfzehn Meter vom Stein entfernt steht. Er öffnet die Tür und so stehen wir in Jimmys Basis. Jimmy setzt sich auf den Holzfußboden und lädt uns ein, uns zu ihm zu setzen. Etwas verblüfft lasse ich mich fallen. "Was habt ihr denn so vom Füllhorn mitgehen lassen?", fragt Jimmy nach einer Pause, in der ich meinen Blick nur durch das Zimmer gleiten lasse. "Ich hab ein Messer und etwas Essen, Alex hat immerhin einen Bogen und einen Rucksack mit einem Schlafsack", antworte ich und zeige ihm meine Sachen. Jimmy nickt und steht auf. Er geht zu einem Schrank hinter ihm und öffnet die Türen. Das erste, was er vor uns hinstellt, sind drei große Wasserflaschen. Ich wechsele einen Blick mit Alex. Das nächste ist ein silbernes Schwert. Dann folgen zwei Schlafsäcke, ein weiteres Messer und ein Kletterseil. Zuletzt legt er uns noch eine ganze Menge Nahrung vor. "Wow! Und das hast du alles vom Füllhorn?" Jimmy nickt, geht aber nicht weiter darauf ein. "Ihr seht echt durstig aus. Hier sind eure Flaschen", meint er nur und schiebt jedem von uns eine große Wasserflasche hin. "Aber seid sparsam, mehr haben wir nicht." Ich versuche, Jimmys Warnung zu berücksichtigen, aber sobald die kühle Flüssigkeit meine ausgetrocknete Zunge berührt, schreit diese nach mehr. Nach wenigen weiteren Schlücken fühlt sich mein Mund wieder wie ein Mund an und nicht wie Zeitungspapier. In der großen Flasche, ich schätze sie umfasst 1,25 Liter, ist jetzt ungefähr noch ein Liter Wasser. Ich stelle sie aus meiner Reichweite um der Versuchung eher widerstehen zu können, noch mehr zu trinken. Ich schaue zu Alex, er blickt nur beseelt die Wasserflasche an. Ohne Jimmy hätten wir nicht mehr lange überlebt. Ich bin meinem Bruder sehr dankbar, dass er Alex akzeptiert. Er ist sicher nicht begeistert, aber weil ich es gern möchte, sagt er nichts dagegen. Ich schiele unauffällig zu ihm herüber. Und begegne seinem Blick. Jimmy lächelt schief. Ich lächele zurück. Dann schaut er weg und ich denke an zu Hause. Werden sie uns gerade sehen können? Wenn nicht gerade irgendwo ein Kampf stattfindet, werden wir wahrscheinlich gezeigt. Was sie wohl gerade denken? Sind sie froh, dass wir am Leben sind? Oder wünschen sie sich, wir wären schon erlöst? Ich jedenfalls wünsche mir das manchmal. Wünsche mir, dass ich nicht noch sehen müsste, wer vor mir gestorben ist. Ich wünschte, ich wäre schon bei Harry und Mama. Und Jimmy hätte gewonnen. Jetzt bereue ich es, mich mit Alex verbündet zu haben. Ihn zu kennen macht es so viel schwerer, ihn umzubringen. Er hat mir mein Leben gerettet. Und dafür kann ich ihn nicht einfach abmurksen. Das muss jemand anderes für mich machen. 

"Du kannst also Bogenschießen?", fragt Jimmy. Alex nickt. "Ja, hat mir mein Vater beigebracht. Meine Schwestern waren riesige Gina-Wellington-Fans und wollten das unbedingt lernen. Und ich hab dann eben mitgemacht." Gina Wellington war eine Siegerin. Ich glaube, sie hat die 72. Hungerspiele gewonnen, bin mir aber nicht sicher. Distrikt 1. Sie war unglaublich schön und ihr Körper makellos. Viele Mädchen nahmen sie sich zum Vorbild und weil sie mit Bögen gewonnen hat, wollten sie das auch können. "Woher kann dein Vater Bogenschießen?", frage ich. Alex zuckt mit den Schultern. "Keine Ahnung. Aber er ist echt gut. Er hat immer getroffen, aber ich war der einzige, der es auch verstanden hat. Meine Schwestern haben sich vollkommen ungeschickt angestellt. Ich wünschte, sie hätten es gekonnt..." "Wieso? Was ist denn mit ihnen passiert?", frage ich. Erst als die Frage meinen Mund verlässt, fällt mir auf, dass Alex vielleicht nicht darüber reden will. "Tut mir leid", schiebe ich schnell hinterher. Er winkt ab. "Schon gut. Es waren drei. Jetzt ist noch eine übrig. Die anderen beiden waren... ihr wisst schon, wo", sagt er. Wir nicken. "Unser Bruder auch", sagt Jimmy bitter. Ich will gerade die Leute aus Distrikt 13 verfluchen, als mir der Gedanke kommt, dass das bei den Zuschauern kaum gut ankommt. Also schweige ich. Aber ich weiß, dass wir alle drei das Gleiche denken. Und das ist auch ein Trost. "Lasst uns rausgehen", schlägt Jimmy vor.

Draußen scheint alles ruhig zu sein. Alles was ich höre ist der leichte Wind. Ich nehme Jimmys Hand und wir laufen ein wenig auf dem Platz umher. Jimmy löst sich und geht in eine andere Richtung. Ich folge ihm nicht. Ich lasse meinen Blick schweifen, als ich plötzlich ein Messer an einer Ecke sehe. Es wird von jemandem gehalten. Jimmy hat sich also nicht geirrt. Hier ist jemand. Ich will meine Verbündeten gerade warnen, als das Messer aus dem Versteck fliegt. Direkt auf Jimmys Herz zu.

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt