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"Wo ist Sam?", frage ich, während der Wind auf dem Startdeck des Hovercrafts, das uns zur Arena bringen wird, mir die Haare zerzaust. Joanne schüttelt den Kopf. "Die Betreuer ziehen sich schon am frühen Morgen in die Zentrale zurück." Ich werde Sam nicht mehr sehen. Nie mehr. "Dann grüß ihn noch einmal von mir. Sag ihm... sag ihm er gehört zu den besten Menschen, die ich je getroffen habe. Und ich habe immerhin im Kapitol gelebt", bringe ich heraus, ich kann die Tränen kaum zurückhalten. Jimmy nickt. "Grüß ihn auch von mir", sagt er schließlich. Joanne lächelt. "Mach ich. Versprochen", sagt sie und ich bin mir sicher, dass sie ihr Versprechen halten wird. "Hast du noch einen Tipp für die Arena?", fragt Jimmy nach einer Pause, in der man nur das Pfeifen des Windes hören konnte. "Trennt euch nicht. Geht nie weit auseinander. Und besorg dir ein Schwert, Jimmy. Und du, Lilly, schnapp dir auch irgendeine Waffe, probier es einfach. Und sucht Wasser." Wir nicken. Jetzt klingt alles so einfach. Als ob das alles wäre, was man braucht. "Passt auf, gleich landet das Hovercraft", ruft Joanne und zieht uns beiseite. Ein zeppelinförmiges Fluggerät landet nicht weit von uns entfernt. Joanne schließt uns beide in die Arme. "Jetzt ist es soweit. Ich werde mir alle Mühe geben, euch am Leben zu erhalten. Viel Glück", sagt sie ein letztes Mal, dann lösen wir uns und gehen zu den beiden ausgefahrenen Leitern des Hovercrafts. Ich schaue ein letztes Mal zurück und sehe sie dort einsam stehen, die schwarzen Haare wehen im Wind. Sie hebt die rechte Hand, mit der linken fasst sie sich an ihr Auge. Ich glaube, sie weint.

"Das ist ein Aufspürer", sagt die Frau mit den Plastikhandschuhen,"damit wir immer wissen, wo du dich befindest. Wenn du still hälst, ist es effektiver für dich." Ich versuche also, meinen linken Arm so still wie möglich zu halten und die Frau führt die übergroße Spritze zu meinem Unterarm. Sie drückt auf einen Knopf und ich spüre, wie sich etwas in meinem Arm bewegt. Nach nur wenigen Sekunden ist es vorbei und alles fühlt sich an wie vorher. Die Frau geht weiter zum Tribut, der neben mir sitzt. Ich glaube, der Junge kommt aus Distrikt 10. Man kann im Zwielicht nicht allzu viel erkennen, aber ich würde ihn auf 14 schätzen. 12 Tribute sind in dem Raum auf den Sitzen. Ich weiß nicht, ob die anderen 12 in einem anderen Hovercraft oder nur in einem anderen Teil unseres Hovercrafts sind. Jimmy sitzt gegenüber von mir. Er lächelt mir kurz zu, dann schaut er wieder unbeteiligt. Plötzlich gibt es einen Ruck, dann spüre ich, wie das Hovercraft abhebt. Es gibt keine Fenster, dabei würde ich gerne noch einmal das Trainingscenter sehen. So starre ich einfach an die Decke, um möglichst wenig von meinen Mittributen sehen zu müssen. Was für eine Waffe soll ich nehmen? Oder sollte ich mich eher auf Wasser fixieren? Wie wird die Arena aussehen? Hoffentlich ist sie nicht aus Eis, ich will zumindest rennen können. Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich kaum bemerke, dass das Hovercraft landet. "Tribute!", ertönt eine Männerstimme aus den Lautsprechern. "Das Hovercraft, das euch zur Arena bringen sollte, ist nun an seinem Ziel angelangt. Bitte stellt euch in Zweierreihen auf und wartet, bis ihr die Leiter heruntergebracht werdet. Ihr werdet euch vor den Türen zu den Katakomben wiederfinden. Folgt bitte den Hinweisschildern zu euren Starträumen. Alles weitere werdet ihr dann von euren Stylisten erfahren. Ihr habt eine halbe Stunde Zeit." Mit einem Knacken ist das Mikrofon des Sprechers abgeschaltet und wir stellen uns auf. Weil ich und Jimmy uns am schnellsten zusammenfinden, sind wir die Ersten, die im künstlich beleuchteten Flur stehen. Dann führen uns die Schilder in verschiedene Richtungen, ich muss nach links.

Zögernd öffne ich die Tür. In dem Raum, den ich gleich betreten werde, steht nur ein Sofa. Außerdem ist da ein Glaszylinder, der mich wohl in die Arena bringen wird. Paul sitzt auf dem Sofa, über dem eine Reihe Kleiderhaken angebracht sind und starrt in die Ferne. Er hat mich noch nicht bemerkt. "Hallo", sage ich vorsichtig. Mein Stylist fährt zusammen und richtet seinen schönen Blick auf mich. Ein Lächeln stiehlt sich auf seine Lippen. "Hey", sagt er. "Komm reim." Ich nicke und gehe zum Sofa. Er nimmt einen Plastikbeutel von einem der Kleiderhaken und hält ihn mir entgegen. "Das sind deine Arenaklamotten. Wollen wir mal reinschauen?" Ich nicke zögerlich und Paul beginnt, die Kleider herauszuholen. Das erste, was er in der Hand hält, ist ein dunkelblaues Shirt. Er gibt ihn mir und fährt fort. Als nächstes bekomme ich ein blaues Sweatshirt überreicht. Eine blauschwarze Jeans folgt und eine Softshelljacke, genauso blau. Als letztes gibt er mir ein Paar blaue Turnschuhe. "Das war's", sagt Paul und lässt die leere Tüte auf den Boden fallen. "Willst du mal anprobieren?" Ich lege den Klamottenstapel auf das Sofa und beginne mit dem Anziehen. Natürlich passt alles perfekt. Auf der Jacke ist hinten eine 5. Kein Wappen des Kapitols. Schade. Das hätte mich an Paul erinnert. Als ich fertig bin, schaue ich mich selbst in einem Ganzkörperspiegel an, den ich vorhin gar nicht bemerkt habe. Ich sehe aus wie ein ganz normales Mädchen. Vielleicht eins aus den Distrikten. Jedenfalls nicht wie jemand, der vielleicht bald zum Mörder wird. Hinter mir sehe ich Paul. "Soll ich deine Haare flechten?", fragt er. Ich nicke. Kurze Zeit später ist mein Haar zu einem französischen Zopf geflochten. Wir setzen uns beide wieder hin. "Möchtest du etwas essen oder trinken?" Obwohl ich die Bilder von verdurstenden Tributen im Kopf habe, lehne ich dankend ab. "Möchtest du reden, Lilly?", fragt Paul nach einer Weile. Ich denke nach. "Naja, ich wollte dir nur sagen, dass du mir sehr dabei geholfen hast, mich hierauf vorzubereiten. Und dass ich hoffe, dass du noch eine Menge Erfolg haben wirst." Paul starrt eine Weile in die Ferne. "Und ich will, dass du einmal eine Frau hast, Paul, und Kinder und dass ihr glücklich werdet." Paul nickt. "Und ich will, dass ihr alle, unser ganzes Team, mal den Rest unserer Familie kennenlernt. Versprichst du mir das?" "Ich verspreche es. Bei allem, was mir heilig ist." Ich lächele. "Danke." "Tribute, noch eine Minute", unterbricht eine Lautsprecherstimme unser Gespräch. Paul steht auf. "Ich hab was vergessen!" Er knöpft sein Jacket auf und holt etwas Silbernes aus der Innentasche. Er bedeutet mir, mich umzudrehen und fummelt an dem Ding herum. Nach ein paar Sekunden meint er:"Jetzt schau dich an!" Ich drehe mich zum Spiegel. Der Eisenberg-Ring baumelt um meinen Hals. "Perfekt", sagen wir beide gleichzeitig. "Noch 30 Sekunden. Begebt euch bitte in die Glaszylinder!"
Ich werde panisch. Ich will das nicht! Schon auf dem Weg zum Zylinder fällt mir noch etwas ein. "20 Sekunden!" "Paul", rufe ich,"sag bitte dem blonden Avoxmädchen, dass ich das nicht zugelassen hätte. Sie wird wissen, was ich meine!" Ich werde jetzt richtig hysterisch. "10 Sekunden! Geht jetzt alle herein!" Ich betrete die Metallplatte. Sofort schließt sich der Zylinder und kein Ton dringt durch das Glas. Panisch versuche ich, wieder herauszukommen. Aber es geht nicht. Ein Klicken ertönt und langsam bewege ich mich nach oben. Das letzte, was ich sehe, bevor mich Dunkelheit umgibt, ist Paul. Er nickt. Und jetzt weiß ich, das ich alles zurücklassen werde, was meine Familie und Freunde benötigen werden, um darüber hinwegzukommen.
Die Dunkelheit umgibt mich zu lange. Ich bekomme Angst, obwohl auch die zweite Möglichkeit, die Arena, nicht gerade verlockend ist. Schließlich werde ich hinausgeschossen ins Freie. Die Sonne blendet und ich kneife die Augen zusammen, um etwas erkennen zu können. Das Füllhorn ist etwa 20 Meter von mir entfernt. Ich sehe eine Menge Nahrung und Waffen darin liegen, weiß aber, dass ich mich bei den äußeren Gegenständen bedienen muss, wenn ich nicht sofort sterben will. Neben meiner Plattform liegt ein Nahrungspäckchen und ich beschließe, mir dieses erstmal unter den Nagel zu reißen, bevor ich weitersehe. Ich lasse meinen Blick über den Platz schweifen, auf dem wir stehen. Um uns herum stehen Häuser und mehrere Läden, unter anderem eine Bäckerei. Mir gegenüber steht ein majestätisches Gebäude, wahrscheinlich ein Rathaus. Die Arena scheint dieses Mal eine Stadt zu sein, überall sind Häuser. In einem Viertel sind sie etwas verfallen, in der Nähe des, ich bezeichne es mal so, Marktplatzes sind vor allem die größeren und vornehmeren Häuser und die Läden. Im verfalleneren Viertel entdecke ich eine Art Scheune, die jedem sofort ins Auge sticht. Etwas abgelegener sind Schienen, die in einem weiteren Backsteingebäude enden, das ist wahrscheinlich irgendein Bergwerk. Als ich mich umdrehe, sehe ich eine Wiese voller Löwenzahn am Horizont, dahinter ist ein Wald. "Meine Damen und Herren, die 76. Hungerspiele haben begonnen!", ertönt es durch irgendwo versteckte Lautsprecher. Ich sehe im Augenwinkel, wie sich die anderen Tribute in Bewegung setzen. Verdammt, Lilly, dass du immer so träumen musst! So schnell ich kann, nehme ich die Nahrung und renne weg. Auf meinem Weg direkt in die Stadt sehe ich ein Messer auf dem Gras liegen, ich hebe es auf und renne weiter, so schnell ich kann. Nur kurz schaue ich zurück, niemand verfolgt mich. Ich renne blindlings in eine Scheune, Licht fällt nur durch die Ritzen im Holz herein. Keuchend gehe ich nochmal alles durch, was ich über die Arena weiß. Die Viertel, der Marktplatz, der Wald. Und da fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Noch nie war ich so dankbar, zur Schule gegangen zu sein.

Die Arena ist Distrikt 12.

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt