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Selbsthass. Das ist das Gefühl, das mich auch noch am nächsten Nachmittag am besten beschreibt. Wie konnte ich es nur zulassen, dass Jimmy sich wünscht, schon gestorben zu sein? Die einzige Person, die mich manchmal aufheitert, ist Alex. Aber auch nur, wenn er sich nicht gerade die Schuld an unserer Situation gibt. Weil ich nämlich die Schuld trage. Es ist nicht so, dass ich damit gut zurechtkäme. Aber ich komme noch weniger damit zurecht, dass andere Leute sich die Schuld geben, sich Dinge vorwerfen, die sie nicht verantworten. Aber wenn Alex nicht gerade genauso niedergeschlagen ist wie ich, schafft er es immer wieder, dass ich lächele. Manchmal lache ich sogar. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn mit jeder Sekunde mehr. Und er liebt mich noch viel mehr. Ich kann sagen, dass ich aufrichtig geliebt werde. Und das ist das schönste Gefühl der Welt.

Ich habe das Gefühl, dass es immer wärmer wird, je länger die Hungerspiele dauern. Die Sonne knallt immer noch vom Himmel, obwohl es schon ungefähr halb fünf Uhr abends ist. Meine Jacke trage ich immer noch, sie soll den Messergurt verdecken. Vielleicht wirke ich dann zumindest auf andere Leute nicht so, als wäre ich schon an dem Tod eines Mädchens beteiligt gewesen. Tief in meinem Inneren weiß ich, dass man mich nur damit verbinden wird, dass ich einmal ein Mädchen getötet habe, aber ich kann es mir nicht immer so vor Augen halte, weil ich dann krank vor Schuldgefühlen werde. Ich schiebe das Thema einfach beiseite, weil es mir in keinem Fall dabei helfen könnte, die Situation wieder in den Griff zu bekommen.

Ich spüre Alex' Blick auf mir ruhen und als ich mich zu ihm umdrehe, sind seine Augen voller Besorgnis. Ich lehne mich an ihn. "Danke, dass du mich noch nicht verlassen hast", flüstere ich. "Wieso sollte ich dich verlassen?" "Weil du mich nicht verdient hast." Alex streicht mir sanft durchs Haar. "Woran machst du fest, dass du mich nicht verdienst?" "Daran, dass du mich immer noch liebst", flüstere ich verträumt. "Ich habe dich nicht verdient, Lilly", meint er. "Weshalb sollte ich besser sein als du?", frage ich. Alex schweigt kurz. "Ich habe getötet. Menschen. Mehrere Menschen." "Ich auch", murmele ich. "Ich habe auch getötet." "Ich habe mehr Menschen getötet als du, Lilly", sagt er. "Aber ich habe es geschafft, meinen Bruder die Schönheit des Lebens nicht mehr erkennen zu lassen. Denn das Leben ist schön, Alexander." "Früher war es schön, ja. Aber jetzt bist nur noch du schön, Lilly Amelie Eisenberg." Ich spiele an meiner Kette herum und lächele in mich hinein. Ich bin immer noch eine Eisenberg. Und ich bin stolz darauf. Die Frage ist, ob der Rest meiner Familie genauso stolz ist, mich in ihren Reihen zu haben. "Sie sind schuld. Die Spielmacher mit ihrer verdammten Arena und ihrem verdammten Mahnmal von Hungerspielen. Als ob das hier eine gerechte Strafe ist", redet Alex weiter, "niemand verdient das. Niemand verdient die Hungerspiele. Und du schon gar nicht, Lilly." Er streicht immer noch über mein Haar. "Manchmal wünsche ich mir, es hätte dich nie gegeben. Weil ich dann einen  Grund hätte, zu meiner Familie zurückzukehren und das alles einfach zu vergessen. Aber ich habe mich nun einmal in dich verliebt. Und weil du immer noch willst, dass Jimmy hier gewinnt, werde ich sterben. Ich hoffe nur, dass wir uns im Jenseits wiedersehen." "Willst du denn gerne hier rauskommen?" "Nein. Nicht, wenn du deshalb sterben musst. Ein Leben ohne dich könnte ich nicht aushalten." "Und deine Familie? Willst du sie nicht wiedersehen?", frage ich. "Natürlich würde ich das gerne, Lilly. Aber ich will sie dir vorstellen. Ich will sie nur sehen, wenn ich dich auch sehen kann. Und ich weiß, dass das nicht geht", meint er. "Sieht dein Vater dir ähnlich?", frage ich. "Ja, aber meine Schwestern sahen meiner Mutter sehr ähnlich. Elfenbeinfarbene Haut und wunderschöne blaue Augen. Ihre Haare waren hellbraun. Sie sahen ein bisschen aus wie du, Lilly", murmelt er. "Aber eine ist doch noch am Leben und deine Mutter auch, oder?", frage ich. "Ja, aber sie beide sind schwer krank. Erst war es nur geistig, wegen dem Tod der beiden, aber beide sind an irgendwas erkrankt. Erst hielten wir es wieder nur für eine Nebenwirkung der Trauer, aber als wir dann endlich den Arzt gerufen haben, meinte der, es sei zu spät für eine Heilung. Sie beide siechen langsam dahin, es ist furchtbar mitanzusehen. Als ich sie verlassen habe, waren es nur noch zwei Skelette, inzwischen sind sie wahrscheinlich gestorben. Und ich konnte mich nicht einmal von ihnen verabschieden." Ich streichele seinen starken Arm. "Das tut mir so leid. Wissen sie, dass du noch lebst?", frage ich. "Ich glaube, sie wissen noch nicht einmal, dass ich ausgelost wurde. Sie sind kaum mehr bei Bewusstsein", sagt Alex und ich höre die Trauer in seiner Stimme. "Sei froh. Ich habe Angst vor dem Moment, in dem meine Familie mich sterben sieht", murmele ich. Alex nickt. "Vielleicht sollte ich froh sein, dass sie denken, dass ich ein langes und glückliches Leben führen werde. Aber für meinen Vater wird es umso schmerzhafter sein. Innerhalb eines Jahres seine ganze Familie zu verlieren...", sagt er. Ich nicke. "Meinst du, er findet es gut, was wir hier tun? Meinst du, er ist froh darüber, dass du glücklich bist?", frage ich. "Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, ob er die Spiele überhaupt wirklich verfolgt, oder ob er zu stark trauert. Wahrscheinlich hasst er dich, Lilly, weil du dich zwischen ihn und mich gestellt hast. Weil ich wegen dir nicht zurückkehren werde. Aber ich hoffe, dass er sieht, wie glücklich ich mit dir bin und wie sehr ich dich liebe. Ich hoffe wirklich, dass er weiß, dass es mir nichts ausmacht und dass ich daran glaube, dass er über uns hinwegkommt." "Ich glaube, wir sind kein tragisches Liebespaar, Alex. Wir sind ein glückliches Liebespaar und unsere Liebe können uns auch die Hungerspiele nicht nehmen", flüstere ich. Alex beugt sich zu mir herunter und küsst mich auf die Wange. "Ich liebe dich, Lilly Amelie Eisenberg. Ich liebe dein Aussehen, ich liebe deinen Namen, ich liebe deine Art, ich liebe deinen Humor, ich liebe deinen Charakter, ich liebe deinen Optimismus, ich liebe deine Liebe. Zu Jimmy und zu mir. Ich liebe dich dafür, dass du immer zu uns stehst und dass du immer versuchst, eine Lösung finden", flüstert er. Freudentränen sammeln sich in meinen Augen. "Und ich würde alles tun, wenn du es nur wolltest, Alex", sage ich. "Und ich will nicht, dass du etwas für mich tust, weil ich nicht will, dass du etwas tust, was du nicht tun willst", fügt er hinzu. "Du bist so schön", flüstere ich,"auch mit deinen Narben und den Schrammen, die die Hungerspiele dir zugefügt haben. Du bist die schönste Person, die ich kenne." Er lächelt. "Nein, das bist du schon", sagt er lachend. Ich lächele. Ich hatte immer gedacht, dass die Beziehungen, die ich mit Leuten wie Quintus hatte, richtige Liebe wären. Aber ich habe mich geirrt. Die echte Liebe erfahre ich erst in den letzten Tagen meines fünfzehnjährigen Lebens. Aber ich kann froh sein, dass ich es spüren durfte. Und ich bin es.

"Warum lässt du dich eigentlich Alex nennen", frage ich,"Alexander klingt doch viel schöner!" Er schüttelt den Kopf. "Alexander hat mich nur meine Mutter genannt", murmelt er. "Und außerdem ist der Name so lang." Ich schweige bedrückt. "Tut mir leid", sage ich leise. "Wenn du mich Alexander nennen willst, darfst du das gerne. Du bist eine würdige Nachfolgerin für meine Mutter. Die würdigeste Nachfolgerin, die ich mir wünschen kann", sagt er. Er klingt nicht traurig. Ich lächele. "Dann werde ich das tun, Alexander." Da lächelt auch er. Jimmy, der die ganze Zeit abseits saß, umarmt mich von hinten. Nur ganz kurz, aber es war eindeutig eine Umarmung. "Eigentlich gefallt ihr mir zusammen", sagt er. Ich weiß, dass es kein Vorwurf sein soll. Aber es tut weh. Dieses eine Wort tut weh. Eigentlich. Alexander, der den Schmerz in meinem Gesicht gesehen hat, lächelt trotzdem statisch weiter. "Danke", sagt er, aber da ist nicht der Klang, der sonst immer in seiner Stimme ist. Nicht der Klang von Lebensfreude und Glück. Seine Stimme ist freundlich, aber nicht mehr. Verschwunden ist die Freundschaft zwischen den beiden. Das Nächste, was ich kaputt gemacht habe. Aber auch ich lächele. Weil Jimmy mich umarmt hat. Er liebt mich immer noch. Jedenfalls noch ein bisschen. Aber dieses Bisschen ist unendlich mehr als nichts.

Die Sonne, die den Himmel schon längst orange färbt, ist schon tief gesunken. Alexander, Jimmy und ich sitzen auf dem angenehmen Waldboden und warten auf die Hymne, damit wir endlich einen Grund haben, schlafen zu gehen. Ich lehne meinen Kopf an Alexanders Schulter, mit seinen Atemzügen hebt und senkt sich auch mein Körper. Es ist ein beruhigendes Gefühl. Heute wird niemand erscheinen, ich habe keine Kanone gehört. Es ist irgendwie ein gutes Gefühl, zu wissen, dass man nicht noch einen weiteren Menschen überlebt hat. Irgendwann ertönt die Hymne. Mein Blick schießt zum Himmel und zu meiner Verwunderung ist da der Junge aus Distrikt 8. Dann, als sein Bild verschwindet, taucht das Mädchen aus 9 auf. Verwundert tausche ich einen Blick mit Jimmy. Wann sind sie wohl gestorben? Vermutlich war es nachts und wir haben es verschlafen. Ich gehe die Liste der verbleibenden Tribute durch. Alexander, Jimmy, ich. Dann noch Hanna und Justin. Wir waren von Anfang an die Stärksten. Die Spielmacher werden kaum noch einen weiteren Tod abwarten. Das könnte ewig dauern. Sie werden es nicht tun. Und damit beginnt jetzt das, wovor ich mich am meisten gefürchtet habe:

Das Finale.

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt