"Jimmy! Jimmy!", rufe ich, während ich auf die Stelle zu renne, an der ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Er steht noch an exakt demselben Ort. "Jimmy!", rufe ich ein weiteres Mal. "Ich hätte es dir sagen sollen", keuche ich. Er schaut durch mich durch. Hinter mir höre ich Alex' Schritte. "Wie lange?", fragt Jimmy mit ausdrucksloser Stimme. Nein, sie ist nicht ausdruckslos, sie ist hohl. "Vier Tage", sage ich. Vier Tage. Es kommt mir vor, als wäre es schon mein Leben lang. Aber vier Tage in den Hungerspielen sind nicht mit vier Schultagen zu vergleichen. Ein Schultag ist strukturiert, geplant, man weiß, was man wann tun wird. Ein Tag in den Hungerspielen ist nichts anderes als ungewiss. Man weiß nicht, ob man den Sonnenuntergang noch erleben wird. Was passieren wird. Ob man vielleicht am Abend als Einzige des Bündisses übrig sein wird. Ein Tag in den Hungerspielen ist kostbar. Er ist länger. Er ist dominanter. Weil es nicht viele gibt. Es werden immer weniger. Und deshalb entsprechen vier Tage in den Hungerspielen ungefähr zwei Monaten im normalen, ungefährlichen Leben. Ich habe um jeden einzelnen dieser Tage gekämpft. Weil ich Alexander Frazier liebe. Und Jimmy weiß, was vier Hungerspieltage sind. "Warum habt ihr mir nichts gesagt?", fragt er. "Was hätte es dir gebracht? Vielleicht wäre daraus nichts geworden und du hättest dich unnötig fertig gemacht", meine ich leise. "Also ist etwas draus geworden..." Ich nicke. Dann sagt er nichts mehr. "Jimmy, ich liebe dich immer noch. Auf eine andere Weise", starte ich einen unglücklichen Versuch. Er nickt nur. Ich tausche einen Blick mit Alex. Tränen schießen mir in die Augen. "Ich liebe euch beide. Und ich weiß nicht, wie ich ohne euch beide überleben soll. Könnte", verbessere ich mich schnell. Niemand sagt etwas. "Ich halte heute Abend Wache", sage ich irgendwann.
Das tue ich auch. Ich mache es nicht gerne, aber ich muss nachdenken. Alleine nachdenken. Wann hätte ich es Jimmy sagen sollen? Vielleicht als Alex mich ignoriert hat. Das wäre ein guter Zeitpunkt gewesen. Kaum habe ich einen Streit geklärt, verletze ich meinen eigenen Bruder zutiefst. Warum? Warum kann ich nicht ein einziges Mal etwas richtig machen? Vielleicht sollte ich mich umbringen... Sterben muss ich früher oder später sowieso. Aber was ist mit Jimmy? Wird er es sich je verzeihen, dass wir uns nicht vor meinem Tod vertragen haben? Und werden Jimmy und Alex vielleicht das Bündnis auflösen und aufeinander losgehen? Nein, ich darf nicht so gehen. Ich will sichergehen, dass alles im Reinen ist. Ich will nicht zu große Löcher hinterlassen. Sie sollen schnell gefüllt sein.
Als der Mond schon über die Mitte hinausgewandert ist, wecke ich Alex, der die nächste Wache übernehmen wollte. "Es tut mir leid", flüstert er, als er mein Gesicht sieht. Den ganzen Nachmittag schon sagt er das zu mir, wann immer er sich ungestört fühlt. "Es ist nicht dein Fehler", wispere ich und lege mich schlafen. Es dauert nicht lange, bis der Schlaf mich übermannt.
Als Alex mich am Morgen weckt, sitzt Jimmy etwas abseits und starrt in die Ferne. "Hat er eigentlich mal mit dir geredet?", flüstere ich in Alex' Ohr. Der schüttelt den Kopf. "Er hat mich nicht einmal angeschaut", murmelt er resigniert. "Ich bin schuld", flüstere ich. Ich weiß, dass ich schuld bin. Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, es Jimmy vorher zu sagen. Meine Gedanken schweifen zurück zur Ernte, dieses Gefühl, nichts tun zu können, in der Gewalt anderer Leute zu sein, ist jetzt stärker als je zuvor. Ich senke meinen Blick. "Es tut mir leid, Alex." Alex schließt mich in seine Arme. "Niemand ist schuld, Lilly. Wir haben alle drei Fehler begangen, aber wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Es ist nun einmal geschehen." Bei dem sanften Klang seiner Stimme fühle ich mich noch schlechter als schon sowieso. Wie konnte ich ihm misstrauen? Wie konnte ich je an meiner Liebe zu ihm zweifeln?
Ich will gar nicht behaupten, dass wir die großartigste Liebesgeschichte hätten und wir sofort gewusst hätten, dass wir zusammengehören, denn so war es nicht. Aber am Anfang habe ich seine Liebe missbraucht. Es hat sich alles schön angefühlt und es war etwas Besonderes, aber ich wollte Jimmy nichts sagen, weil ich dachte, dass nichts mehr kommt. Ich habe Alex immer noch als einen guten Freund von mir gesehen, vielleicht einen sehr guten, aber nicht als Partner. Dass ich auch etwas spüre, das fiel mir erst viel später auf, als wir uns zerstritten hatten. Und dann hätte ich es Jimmy auch gesagt. Wenn er es nicht selbst herausgefunden hätte...Als wir zu Jimmy hinschlendern, wohlbedacht, nicht Händchen zu halten oder Ähnliches, schaut er uns nicht einmal an. Er starrt einfach weiter in die Ferne. Ich setze mich direkt neben ihn. Er rührt sich nicht. "Hey. Jimmy", sage ich sanft. Vorsichtig streiche ich über seinen Arm. Er zieht ihn nicht weg, aber er scheint es nicht einmal zu registrieren. "Jimmy, das hier sind die Hungerspiele. Hier können nicht wir entscheiden, wie wir hier zurechtkommen. Das machen die Menschen draußen. Und die Menschen da draußen mögen es nicht, wenn Verbündete sich streiten", flüstere ich, "Wir müssen es ja nicht lange durchhalten. Noch acht Tribute übrig." Ich überlege kurz. "Alex und du. Ich. Justin aus 1. Das sind schon vier. Alex' Distriktpartnerin Hanna. Fünf. Dann noch der Junge aus 3 und das Mädchen aus 9. Sieben. Und..." Eine Kanone ertönt. "Einer ist tot. Das dauert nur noch ein paar Tage, Jimmy. Dann kannst du mich hassen, so lange du willst, denn ich werde tot sein." "Wirst du nicht", murmelt er, immer noch ohne mich anzuschauen. "Ich werde tot sein." Beim Klang seiner Stimme läuft es mir kalt den Rücken runter. Bitterkeit. Ja, Bitterkeit ist der richtige Ausdruck. "Es ist gut, dass ich dann tot bin. Dann kann mich niemand mehr verletzen. Lilly, ich will gar nicht mehr leben." Ihn so zu hören tut weh. Es tut unendlich weh. Der Jimmy, den ich liebe, der mich zum Lachen bringt, ist gebrochen. Der Jimmy, der mir hilft, an mich glaubt, der mir vertraut, der sterben will, damit ich leben kann, ist ersetzt. Durch einen anderen Jimmy. Ein Jimmy, den ich verletzt habe, dessen Vertrauen ich missbraucht habe, ist an seine Stelle getreten. Mein Bruder will nicht mehr sterben, damit ich überleben kann, er will seinen Tod, weil er das Leben nicht mehr erträgt. Weil ich ihn belogen habe.
"Jimmy, du hast es verdient, zu leben. Viel mehr als ich. Ich habe dir unrecht getan, ich habe es wirklich nicht verdient", sage ich hilflos. "Nein, hast du auch nicht", antwortet er nur. Ich nicke, versuche, die Tränen herunterzuschlucken. Es stimmt. Alles, was er sagt, stimmt. "Aber ich habe es noch weniger, Lilly", fährt er fort. "Ich habe einen Menschen getötet. Einfach so. Ich habe nicht einmal darüber nachgedacht, was ich tue. Es war wie selbstverständlich. Niemand, der so handelt, verdient das Leben." Jetzt rollen mir die Tränen über die Wangen. Der selbstbewusste, kluge Jimmy. Jetzt hasst er sich selbst. Er hasst auch mich. Er hasst alles. "Ich habe ihr ein Lied gesungen", bringe ich unter Tränen heraus. "Dem Mädchen, das du umgebracht hast. Das war, als ich es eigentlich durchsuchen sollte nach nützlichen Dingen. Ich hab in ihr Gesicht geschaut", ich weine immer stärker, "ihre Augen waren so weit aufgerissen. Sie sah so verletzlich aus. Und dann habe ich für sie gesungen, damit ich sie nicht vergesse." Jimmy schweigt, während ich laut schluchze. Es sind die Tränen, die ich die ganze Zeit zurückgehalten habe. Jetzt kommen sie alle. Ich kann es nicht mehr stoppen. "Was hast du gesungen?", fragt Jimmy irgendwann. "What a way to go", murmele ich leise. "Lilly, am Ende der Hungerspiele wird mindestens einer von uns tot sein. Versprichst du mir, dass du, während einer von uns geht, auch singst?" "Ich verspreche es", flüstere ich unter Tränen und schwöre mir dabei im Stillen, dass ich es sein werde, die während dieses Lieds stirbt. "Lass uns wieder miteinander reden. Für das Publikum", flüstere ich. Er nickt. "Für das Publikum", wiederholt er. Ich rücke rüber zu Alex und weine mich an seiner Schulter aus. "Ich will, dass es vorbei ist", schluchze ich. Alex streicht über meine Haare. "Jeder will das, Lilly. Aber nur einer wird es erleben können." "Ich weiß, Alex, ich weiß. Aber für uns alle ist es irgendwann vorbei. Nur nicht immer dann, wenn die Hungerspiele vorbei sind." Er nickt kurz, wahrscheinlich, weil er weiß, dass er das tatsächliche Ende dieser Hungerspiele nicht miterleben wird. Dass er nie wissen wird, wie Panem sich entwickelt und wie die dunklen Zeiten vergessen werden. Wir werden vergessen sein. Ein kleiner Punkt in der großen Masse der gefallenen Tribute. Niemanden wird es später interessieren, wie wir gekämpft haben.
Ich fürchte mich vor dem Vergessenwerden.
DU LIEST GERADE
Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung
FanfictionPanem, ein Jahr nach Kriegsende. Das Kapitol gestürzt, alle Bewohner auf die Distrikte verteilt. Lilly Eisenberg, 15 Jahre alt, lebt mit ihrer Familie in Distrikt 5. Eigentlich geht es ihnen gut, wenn da nicht dieser eine Tag wäre. Der Tag der Ernte...