«Er liebt mich, er liebt mich nicht»

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Unendlich lang schien der nächste Tag zu dauern. Ich konnte mich kaum auf die Ausführungen des Professors konzentrieren. Normalerweise hing ich an seinen Lippen und saugte jede Informationen auf, aber heute ging mein Blick immer wieder sehnsüchtig nach draußen, wo sich die Sonnenstrahlen durch die dicke Wolkendecke drängten.

Versunken in Gedanken, stützte ich meinen Kopf auf und kritzelte auf meinem Zeichenbrett herum.

Warum konnte ich nicht aufhören an Daryl zu denken? Immer wenn wir uns über den Weg liefen, warf er mich aus der Bahn und ich blieb verwirrter zurück als die Male davor. Eigentlich kannten wir uns kaum und trotzdem beeinflusste er mein Leben, wenn er auftauchte. Hatte ich vielleicht gestern etwas überreagiert und er hätte eine Chance verdient, Stellung zu beziehen. Seine Worte schienen mir nie unaufrichtig gewesen zu sein. Und würde jemand, der mir nur an die Wäsche wollte, so einen Aufwand betreiben? Es gab auf der Welt doch sicher willigere, attraktivere Opfer als mich.

Nein, vergiss es Lyn! Er ist oder war verheiratet und hat sich trotzdem an dich geworfen. So etwas macht kein aufrichtiger Mann. James hat Recht, er ist ein Frauenheld.

„Miss Callahan, Sie können mir bestimmt erläutern, durch was die Statik eines Gebäudes beeinflusst werden kann!", sprach mich eine raue Stimme an. Erschrocken fuhr ich hoch und sah erst den Professor, der vor mir stand und dann mein Gekritzel an.

„Ähm, nun ja", stotterte ich und wollte am liebsten im Erdboden verschwinden. Ich suchte verlegen nach einer Antwort, bekam aber keinen vernünftigen Satz zustande. Doch Mister Woodpecker hatte Gnade mit mir und beendete den Kurs um mich nicht noch weiter zu beschämen. Kichernd verschwand meine Sitznachbarin mit den andern Studenten, die ihr Gelächter nicht verbargen. So schnell ich es vermochte, sammelte ich meinen Utensilien zusammen um mich ebenso aus dem Staub zu machen. Aber ganz so einfach wollte mich der Professor nicht davon kommen lassen. Er trat hinter mich und betrachtete eingehend mein Werk aus Strichen und Schattierungen.

„Ohne Frage, Sie haben Talent, Miss Callahan. Verschwenden Sie es nur nicht an diese flüchtigen Gedanken. Bleiben Sie fokussiert auf ihr Ziel!", mahnte er mich lachend und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter, bevor er zurück zu seinem Pult ging.

Ich steckte das Blatt in meine Jackentasche und eilte mit hochrotem Kopf zur Tür.

„Ich würde es begrüßen, wenn Sie mir nächste Woche mit mehr Aufmerksamkeit folgen würden", verabschiedete er sich möglichst ernst von mir, doch ich vernahm den belustigten Unterton in seiner Stimme ganz genau.

Toll gemacht, Lyn! Wie alt bist du? Zwölf?

Zur Wiedergutmachung meiner Unaufmerksamkeit verbrachte ich den ganzen Nachmittag in der Bibliothek und ging meine Aufzeichnungen konzentriert durch. Keinesfalls wollte ich dieses Studium in den Sand setzen, nur weil ich nicht bei der Sache war.

Als die Januarsonne bereits tief stand, machte ich mich auf den Heimweg quer durch den Park. Eisiger Wind wehte mir entgegen. Mit starren Fingern holte ich meine Handschuhe aus meiner Jackentasche und streifte sie über.

Noch keine zwanzig Meter war ich gelaufen, da hörte ich aus der Ferne Daryl rufen: „Ich glaube, du hast etwas verloren."

Ich stoppte und drehte mich zu ihm um. „Selten so eine dämliche Pickupline gehört!" Ich war kurz davor weiter zu laufen, doch da entdeckte ich, dass er wirklich etwas in der Hand hielt.

Glück reist auf weißen Schwingen (Neufassung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt