«Der Ruf der Freiheit»

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In großen Buchstaben begrüßte mich das Eingangstor des Oak Hill Friedhofs. In der Abgeschiedenheit zwischen den alten Gräber fühlte ich mich seltsamerweise heimisch. Es war für mich ein Treffpunkt der Seelen, an dem ich meiner Mutter näher war als anders wo. Gerade heute wo sie ihren fünfundvierzigsten Geburtstag gefeiert hätte, war mir das besonders wichtig.

Endlich hatte es aufgehört zu schneien und einzelne Sonnenstrahlen blitzten durch die graue Wolkendecke. Wie Millionen winzige Glaskristalle funkelte der Schnee auf den alten Eichen, die den Pfad zu der kleinen Kapelle säumten. Hoch oben auf dem Hügel war sie sofort zu sehen. Ich schlug den direkten Weg zu ihr ein, vorbei an Jahrzehnten alten Ruhestätten, die überwuchert von Gestrüpp, verwittert und verlassen waren.

Nur eins stach dort heraus, denn es war im besten Zustand. Immergrünes Efeu sorgsam gestutzt, umrankte eine lebensgroße Engelsstatue aus hellen Marmor. Ihr gesenkter Kopf gerichtet auf einen Strauß gefrorenen Rosen. So ein Denkmal wäre meiner Mom würdig gewesen, wenn ich genügend Geld besessen hätte. Und nicht dieser graue Stein in mitten einer Wiese, den sie stattdessen bekommen hatte.

Wie durch eine fremde Macht gelenkt, zog mich die Gedenkstätte an. Kälte kroch mir die Beine hoch als ich den wadenhohen Schnee durchquerte.

Wer wohl dort begraben lag? Neugierig hockte ich mich hin und suchte nach einem Hinweis. Ich kehrte den Schnee vom Sockel der Figur. Das Geburtsdatum war das einzige was ich lesen konnte, bevor eine kleine Lawine auf mich herab stürzte und die angebrachte Tafel wieder bedeckte. Ich sah nach oben und entdeckte eine Taube, die sich auf dem Frauenkopf niedergelassen hatte. Emsig putzte sie ihr blütenweißes Gefieder, ohne sich weiter an mir zu stören.

„Verfolgst du mich, mein Freund?“ Ihre schwarzen Knopfaugen blickte auf mich herab. Mit Bestimmtheit konnte ich nicht sagen, ob es die gleiche von damals war, sahen sie doch alle annähernd ähnlich aus. Aber dass Gefühl der Verbundenheit, das sie ausstrahlte, machte mich nachdenklich. Für mich war sie der Inbegriff der Freiheit. Nur sie allein bestimmte, wohin ihre Flügel sie trugen.

„Happy Birthday, Mom!“, sagte ich zu ihr. Woraufhin sie kurz mit dem Kopf wackelte und mich mit ihren schwarzen Knopfaugen ansah. Und wie zur Aufforderung ihr zu folgen, erhob sie sich in die Lüfte und flog geradewegs auf die Kapelle zu.

Keine Menschenseele war in dem winzigen Gotteshaus. Leise rutschte ich in die alte Holzbank und schlug ein Kreuz über meiner Brust. Ich schloss die Augen und betete für Pauls Genesung und dachte an Mom, wie wir ihren letzten Geburtstag zusammen mit den Millers gefeiert hatte. An meinen Wimpern sammelte sich, die immer wiederkehrende Feuchtigkeit, die mein Leben seit Monaten beherrschte.

Meine Gedanken schweiften ab und landeten bei Daryl. Er hatte ebenso einen geliebten Menschen verloren und ich wusste nur zu gut, wie hart es gewesen sein musste, seine Mutter sterben zu sehen. Auch wenn ich wütend auf ihn war, fand sein Bild immer wieder Platz in meinem Kopf, egal wie sehr ich versuchte es auszulöschen. Diese Anziehung zwischen uns war nicht abzustreiten und wieder erwischte ich mich bei dem Gedanken mir vorzustellen, wie es wäre an seiner Seite zu sein.

„Verdammt Carolyn, hör endlich auf darüber nachzudenken“, rügte ich mich und im selben Moment schlug die Turmuhr fünf. Eilig verließ ich das Gotteshaus, schließlich hatte ich noch eine Verabredung mit Jamie zu der ich keinesfalls zu spät kommen wollte.

Ich schlug meine Kapuze über den Kopf und stiefelten durch den knöchelhohen Schnee zurück zum Auto. Fast hatte ich es erreicht, da kam mir ein großer Mann entgegen. Nur im Augenwinkel nahm ich ihn und den Strauß Rosen in seiner Hand wahr. Gerade als ich die Fahrertür öffnen wollte, fasste jemand nach meiner Schulter.

Glück reist auf weißen Schwingen (Neufassung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt