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Den gesamten Tag war ich so aufgeregt ihn wieder zu sehen, dass mir jede Minute vorkam, wie Stunden. Zäh rückte der kleine Zeiger immer weiter vorwärts und dehnte die Zeit unendlich lang. Meine Nerven waren so sehr angespannt, dass mich mein Professor mit Argusaugen beobachtete, da ich unaufhörlich auf die Uhr und dann wieder sehnsüchtig nach draußen guckte. Seit der Sache mit der Zeichnung forderte er mich ständig heraus und prüfte meine geistige Anwesenheit. Natürlich hätte ich den Tag auch blau machen können, aber dafür war ich dann doch zu ehrgeizig, um mein Studium einfach so zu vernachlässigen. Zumal die Abschlussprüfungen nicht mehr weit entfernt lagen, konnte ich mir keine Patzer mehr erlauben. Endlich schlug die Glocke vier und ich sammelte schnell meine Aufzeichnungen und Stifte zusammen.
„Miss Callahan, auf ein Wort", sprach der Professor mich an, noch bevor ich die Tür erreichte.
„Natürlich!"
Während ich mit einem etwas mulmigen Gefühl zu ihm ging, setzte er sich auf den Rand des Tisches, dabei schaute er streng drein. „Sie scheinen mir in letzter Zeit nicht ganz bei der Sache zu sein."
Schuldig blickte ich ihn an und nickte. „Ich werde mich in Zukunft zusammen reißen, denn ich will diesen Anschluss unbedingt."
Sichtlich erleichtert über meine Antwort lächelte er. „Gut, das freut mich zu hören. Sie sind eine meiner besten Studentinnen und ich wäre enttäuscht, wenn sie ihr volles Potenzial nicht ausschöpfen und dadurch ihr Stipendium verlieren."
„Danke, Mr. Woodpecker", antwortete ich und verließ den leeren Hörsaal. Noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen, doch er hatte Recht. Ich musste weiter am Ball bleiben. Aber das konnte warten bis morgen. Heute gab es nur Daryl und mich.
Vergnügt hüpfte ich den langen Flur entlang und kam wenig später zu dem Parkplatz, auf dem ich ihn treffen würde. Und wie ein griechischer Gott aus Marmor gemeißelt, lehnte er entspannt an seinem polierten Wagen, passend gekleidete in einer schwarzen Jeans und einer dunklen Lederjacke. Es verlieh ihm etwas Rebellisches, was jedoch von dem sanften Lächeln, das er mir zuwarf, gebrochen wurde. Wie auf Wolke sieben schwebte ich auf ihn zu.
„Da bist du ja", begrüßte er mich. „Darf ich bitten!" Er deutete grinsend eine förmliche Verbeugung an und öffnete mir galant die Tür.
„Danke Alfred, Sie können jetzt unser Ausflugsziel ansteuern", neckte ich ihn, was ihm sofort ein Lachen entlockte.
„Stets zu Ihren Diensten, Miss!", konterte er mit einem Augenzwinkern und ein angenehmer Schauer durchflutete mich bei dem Gedanken an diese zweideutige Anspielung.
Während der Fahrt quer durch die Stadt, bohrte ich nach, wohin er mich denn bringen würden, aber es war zwecklos. Rein gar nichts ließ er durchblicken, gab sich geheimnisvoll und sagte mir, dass es nicht wichtig war, wohin wir fuhren. Es zählte nur, auf wen wir dort trafen.
„Unter einem romantischen Spaziergang hatte ich mir eigentlich etwas anderes vorgestellt", meinte ich überrascht, als wir vor dem Oak Hill Friedhof hielten.
„Von romantisch hab ich auch nie etwas gesagt", antwortete er mit einem Lächeln und stieg aus. Er öffnete meine Tür und reichte mir seine Hand. „Aber das hier ist mir sehr wichtig."
Schweigend folgten wir dem Weg zur Kapelle. Kurz davor bogen wir ab und stiegen den Hügel hoch, vorbei an den alten mit Moos bewachsenen Grabsteinen. Und steuerten direkt auf die Engelsstatue zu, die heute mit neuen Rosen bestückt war. Ich konnte es nicht glauben, dass mich das weiße Federvieh schon einmal hierher gebracht hatte. Sollte so etwas wie Schicksal existieren, dann stand ich gerade vor dem Grab seiner Mom.
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Glück reist auf weißen Schwingen (Neufassung)
General FictionDas Leben eines Menschen besteht aus Entscheidungen und jede Wahl zieht Konsequenzen nach sich, die seine Zukunft ändern. So erging es auch der 25jährigen Architekturstudentin Carolyn. Der unerwartete Tod ihrer Mutter hat ihre Träume, wie die morsc...