Teil 47

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Haechan stellte eine dampfende Tasse Tee auf den Tisch vor mir und verabschiedete sich für einen Moment von uns. Ich nickte dankend und zog mir die Decke noch ein Stück höher, obwohl es draußen bestimmt über 20 Grad warm war. Mir war kalt. Jeno drückte mich noch fester an sich heran und gab mir einen liebevollen Kuss auf den Haaransatz. Ten kam mit seinem Handy ins Wohnzimmer rein und beendete gerade sein Telefonat. "Also, ich habe mit deinen Eltern gesprochen. Dein Vater war nicht gerade begeistert, doch Mihyun konnte ihn umstimmen, es geht also alles klar. Sie wird dich morgen bei uns abholen." Berichtete uns der Ältere und setzte sich gegenüber von mir hin. Er legte seinen Kopf schief und schob sein Smartphone neben die dampfende Tasse. "Wie geht es dir?" Fragte er mich besorgt. "Besser als vorhin." Probierte ich überzeugend zu sagen, jedoch spürte ich, dass sie mir nicht ganz glaubten. Taeyong kam um die Ecke und verzog bei meinem Anblick sein Gesicht. "Wenn es dir wieder besser geht, kannst du ja auch wieder gehen." Meinte er grob und holte sich ein Glas Wasser aus der Küche. "Lass sie Tae, sie kann doch nichts dafür." Verteidigte Jeno mich und richtete sich etwas auf. "Und? Wir können doch auch nichts dafür, dass es ihr schlecht geht. Warum sorgt ihr euch dann um sie? Soll sie einfach zu ihrer Mutter gehen und sich dort ausheulen." Mit jedem Wort was er bislang zu mir gesagt hatte, hatte er mich verletzte, doch diesmal war es anders. Seine Worte verletzten nicht mehr, nein, sie berührten einen Punkt, welcher unberührt bleiben sollte. "Übertreib es nicht Taeyong," nuschelte ich gereizt vor mich hin, warnte ihn. So leise wie ich diese Worte gesagt hatte, dachte ich, dass er hätte sie nicht vernahm, doch gerade als er aus dem Raum laufen wollte blieb er stehen und drehte sich wieder um. Tae kam auf mich zugelaufen und kniete sich zu mir hinunter. Verängstigt weitete ich meine Augen und starrte geradewegs in die seine. "Und was ist wenn nicht? Wirst du dann zu deiner Mami rennen und mich verpetzten?"

Damit ging er zu weit und ich stand prompt auf. Sogar er war von meinem ruckartigen Handeln überrascht und taumelte einige Schritte zurück. Ich lief, entgegen aller anderen, auf den Balkon und atmete tief ein. Es war eine warme Sommernacht und obwohl die Sonne bereits verschwunden war, durchbrachen die Lichter der Stadt die Dunkelheit. Um mich selbst zu beruhigen schloss ich meine Augen, doch wurde durch ein Geräusch hinter mir unterbrochen. Durch die Balkontür schritt Taeyong auf mich zu und hatte seinen desinteressierten Blick aufgesetzt. Ich schenkte ihm keine weitere Beachtung. Meine Arme legte ich auf das Geländer und ich beobachtete die Abendkulisse Seouls. "Die anderen haben gesagt, dass ich mich bei dir entschuldigen soll." Meinte er. "Verschwinde," antwortete ich zerbrechlich. "Ja, aber erst wenn du mitkommst, sonst lassen mich die mich nicht in Ruhe." Ich rollte entnervt mit meinen Augen und drehte mich zu ihm um.

"Du hast doch keine Ahnung. Niemand hat überhaupt eine Ahnung." Zischte ich ihn an und wandte daraufhin meinen Blick wieder von ihm ab. Verwirrt schaute er mich an und kam einen Schritt näher. "Wie meinst du das?" Hakte der ältere nach. "Lass mich einfach in Ruhe." Säuselte ich, der der Asiate ließ nicht locker. Sarkastisch Lachte ich auf, drehte meinen Kopf zu ihm um. "Ihr denkt doch alle, dass der Grund warum ich hier bin, die Freundin meines Vaters ist, nicht wah?" Taeyong stellte sich neben mich an das Geländer und beobachtete ebenfalls die Häusermassen der Stadt. "Größtenteils stimmt dies auch, doch..es ist nicht nur das, was ihr noch nicht über mich wusstet." Abwartend starrte mich der Größere an, doch mein Blick hatte ich allein auf die Stadt gerichtet.

"Habt ihr euch jemals gefragt, was mit meiner Mutter ist?" Bevor Taeyong antworten konnte erzählte ich schon weiter. "Meine Mutter ist tot. Ich kann mich noch genau an sie erinnern; sie hatte wunderschöne blonde Haare, ein strahlendes Lächeln und eine engelsgleiche Stimme. Als wir in China waren hatte ich einen Albtraum, ich sah sie. Sie trug ihr weißes Lieblings Kleid, das selbe Kleid was sie an jenem Tag trug. Es war ein warmer Sommer Abend, wir waren auf dem Rückweg von einer Gartenparty. Meine Mutter saß am Steuer, mein Vater neben ihr und ich hinten auf der Sitzreihe. Wir fuhren über eine Brücke, an einem wunderschönen See vorbei, ich liebte das Wasser und starrte nur auf dieses. Wie es in der Dämmerung funkelte und glitzerte. Plötzlich spürte ich, wie mein Kopf gegen die Autoscheibe gedrückt wurde und sich alles um mich herum zu drehen begann. Jemand fuhr an diesem Abend in unser Auto hinein und schleuderte uns von der Brücke ins Wasser. Das letzte woran ich mich noch erinnere, ist wie mein Herz ununterbrochen klopfte, so schnell schlug es noch nie. Ab da war alles schwarz. Das nächste was ich sah, als ich meine Augen wieder öffnete, war mein Vater, wie er mit Tränen in den Augen meine Hand hielt und mich in den Arm nahm. Wir waren im Krankenhaus und an dem Tag erfuhr ich, dass ich bei diesem Unfall meine Mutter verloren hatte. Von diesem Moment an litt ich unter schlimmen Albträumen und Schlaflosigkeit. Es hörte erst auf als Mihyun in unser Leben trat." Taeyong hatte während meiner Erzählung nicht einmal seinen Blick von mir abgewandt. Ich unterdrückte mir die Tränen und lächelte einfach nur mit gläsernen Augen auf die Stadt. Zu oft hatte ich deswegen geweint, zu oft zeigte ich deshalb Schwäche. Meine Mutter hätte gewollt, dass ich nun hier stehe und lächle und nicht wegen ihr weiter Tränen vergieße. Das hatte ich zu oft getan. 

"Linn ich..es-.." Probierte er sich zu rechtfertigen. "Nein Taeyong. Zeig mir kein Mitleid, du kannst es nicht nachvollziehen. Das konnte noch nie jemand." Zum ersten Mal blickte ich, nach meiner Erzählung, in seine Augen. Und zum ersten Mal seitdem ich Taeyong kannte sah ich etwas erstaunliches. Ich sah Verletzlichkeit.

"Ich kann dich verstehen. Damals bei der Geburt meiner Schwester...wäre meine Mutter fast gestorben. Sie war lange Zeit sehr schwach und ich weinte sehr oft, zu oft. Das habe ich bislang noch keinem erzählt, es ist ein dunkler Lebensabschnitt von mir." Diesmal hörte ich gebannt zu und war geschockt. Wir hatten beide eine tragische Vergangenheit, doch ließen es keinen Wissen. Zum ersten Mal kam ich mir Taeyong ganz nahe vor, so offen und ehrlich. "Lass uns wieder rein gehen." Schlug ich lächelnd vor, woraufhin er nickend zustimmte.

⁰¹ LIMITLESS | jenoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt