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Es waren mittlerweile fast zwei Wochen, seit ich Nèamh das letzte mal gesehen hatte. Coinìn hatte sich in dieser Zeit wieder komplett erholt, erinnerte sich allerdings nur noch schlecht an das Geschehene und ich? Ich hatte sämtliche Social Media nach Nèamh durchsucht- nada. Er besaß weder Facebook, noch Instagram, noch sonst was... Es war zum Haare ausreißen. Ich hatte auch keinen neuen Auftrag bekommen, sodass ich mich auch nicht durch eine Jagd von meiner Misere ablenken konnte. Wieso mich Nèamh so sehr interessierte, konnte ich selbst nicht sagen, aber wahrscheinlich lag es daran, dass ich ihn nicht einschätzen konnte. Er war wie ein Buch, dessen erstes Kapitel man lesen konnte, aber nicht mehr, weil der Autor gestorben war, bevor er das Ende schreiben konnte. Deprimierend.
Mein Alltag bestand mittlerweile nur noch darin, die Wohnung um- und aufzuräumen, zu essen, schlafen und Filme zu schauen... Sera hatte ich auch nicht mehr gesehen, sie war wohl noch mit ihren Familienangelegenheiten beschäftigt. Zwischendurch bekam ich mal den ein oder anderen Text von ihr oder ein Bild, aber mehr bekam ich nicht zu hören. Es war Dienstag, als das erste Mal wieder etwas spannendes passierte. Naja, spannend war vielleicht etwas übertrieben; ich hatte einen Brief bekommen. Einen mit Wachs versiegelten Brief mit einem Wappen, dass eine Art Vogel abbildete, der gerade einen Menschen schnappte- denke ich. Ich hatte das Wappen noch nie gesehen und es machte mir Angst, ich wusste nicht wieso aber es machte mir Angst. Bis Donnerstag lag besagter Brief also auf meinem Küchentresen und wurde nicht angerührt, bis Coinìn mich regelrecht dazu zwang ihn zu öffnen. »Mach den scheiss' Brief doch endlich auf, was kann schon groß passieren? Der Brief ist viel zu klein, als dass darin eine Bombe oder etwas anderes sein könnte, dass dir gefährlich werden könnte«, grummelte er genervt, während ich versuchte den Brief so langsam wie möglich zu öffnen. Kaum war der Umschlag geöffnet, stieg plötzlich eine Wolke aus hellem Rauch aus und formte sich zu einem Gesicht- eine sehr alte Art der Kommunikation. Der Rauch stieg nur auf und verkündete die Nachricht, die der Verfasser geschrieben hatte, wenn der Brief von der richtigen Person geöffnet wurde- so könnte man während der Zeit, in der es noch kein Postgeheimnis gab, sicher gehen, dass Briefe nicht in die falschen Hände fielen.
Das Gesicht fing an zu sprechen, eine monotone Männerstimme, wie sie nur von einem magischen Diktiergerät stammen konnte.
»Sehr geehrte Saorla Aìnfean,
Es ist mir eine Freude, ihnen mitteilen zu dürfen, dass sie hiermit für den diesjährigen Herbstball im Hause des Königs eingeladen sind. Informationen, wie den Ort oder das Datum des Balles, werden Ihnen innerhalb der nächsten Tage per Post zugeschickt werden. Sollten Sie durch einen triftigen Grund verhindert sein und damit nicht in der Lage sein, den Ball zu besuchen, würde es Ihnen guttun uns dies innerhalb der nächsten Tage mitzuteilen. Falls Sie der Einladung prophylaktisch nicht folgen sollten, könnte sie das ihr Leben kosten.
Mit schauerlichen Grüßen,
der oberste Sekretär des Königs, James Hudson«. Die Stimme verstummte und der Rauch verschwand. Ich starrte stumm auf den halb verkohlten Brief, der nun vor mir auf dem Boden lag und überlegte laut: »Was für einen König hat dieser Hudson denn bitte gemeint? Es gibt ne Menge Könige in dieser Welt. Sind es jetzt weltliche Könige, wie die Queen von England oder sind es inoffizielle, so wie mein Vater?«, ich schüttelte den Kopf, hob den Brief auf und schnappte mir ein Glas Whiskey. Ich bräuchte jetzt Alkohol, um auf andere Gedanken zu kommen. »Die zusätzlichen Informationen zum Wo und Wann sind übrigens auch schon da«, seufzte Coinìn müde und hielt mir einen weiteren Brief mit Siegel entgegen. Wies könnte dieser König mir keine E-Mail schreiben? Oder auf Facebook oder so? Wenn er nicht völlig von der Gesellschaft abgeschottet leben sollte, würde er das doch wohl können, oder war das etwa zu viel verlangt?
Der Inhalt des zweiten Briefes war dieses mal erstaunlich langweilig: ein einzelnes kunstvoll verziertes Stück Papier mit einem Datum und einer Uhrzeit, eine Einladungskarte in Form einer Hotel-Card, ein Prospekt zum dazu gehörigen Hotels, ein Standort und eine Wegbeschreibung dorthin. Der ganze Spaß war in Schottland, was bedeutete, dass ich fliegen würde. Und ganz offensichtlich hatte dieser geheimnisvolle König auch daran gedacht, denn Coinìn reichte mir einen dritten Brief, in dem sich ein Flugticket und eine Bescheinigung für einen Mietwagen- samt zugehörigen Schlüsseln- befanden.
Nett.
»Hast du auch eine Einladung zu diesem Ball?« Coinìn nickte abwesend und hielt zwei Briefumschläge hoch. »Hab es gestern schon geöffnet. Hast du gesehen, dass wir morgen schon fliegen?«, grummelte er und zog einen Koffer aus dem Flur ins Wohnzimmer zu mir.
Ich hasste es Koffer packen zu müssen- ich hasste es wirklich. Aber mir blieb wohl nichts anderes üblich, also stürzte ich das Glas mit Whiskey und lief hustend ins Schlafzimmer- der Alkohol brannte in meinem Hals, während ich anfing nach einem ball-tauglichen Kleid zu suchen. Vorsichtshalber packte ich neben dem Kleid, Dessous und den obligatorischen Dingen noch meine Arbeitskleidung ein- in Schottland hab es bestimmt auch Aufträge, die ich ausführen könnte; und sei es nur ein Irrlicht oder ein Kelpie.

AìnfeanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt