Z W E I U N D Z W A N Z I G

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»Das ist ein Scherz oder? Wir sind nicht wirklich in der Hölle, ich kann doch ganz deutlich die schottischen Berge sehen...«, fuhr ich sie wütend an. Sie lächelte nur und machte eine wischende Handbewegung- die Landschaft schien plötzlich in sich zusammenzufallen. Wie bei diesem unsinnigen Spiel- Jenga- wenn man den falschen Stein rauszog und der ganze Turm in sich zusammenbrach. Wir standen jetzt nicht mehr in den Bergen, umgeben von kühler frischer Waldluft und dem leisen Zwitschern der Vögel- wir standen jetzt auf einem holprigen Weg voller Schlaglöcher und riesiger Pfützen. Die schottischen Highlands ähnelten nun eher einer grotesken Abbildung eines Haifisch Gebisses, wie Todesengel ragten die verkohlten Stämme der eben noch so grünen Bäume in die Luft und verpesteten die Luft mit ihrem widerlichen Gestank, der wie eine Mischung aus kaltem Rauch und faulen Eiern beschrieben werden konnte.
Es war ein trostloses Bild. Und so anders, als die Menschen sich die Hölle immer vorstellten. In LA hatte mir ein christlicher Prediger einst von seiner Version der Hölle erzählt: dort war es heiß und überall brannten Seelen in riesigen Feuern- dem Fegefeuer. Die Hölle war in seiner Vorstellung ein brennend heißer Ort- ein Ort voller Qual, Folter und Schmerz. Es war dort trist und man wollte unbedingt verhindern, dort zu landen.
Wir erreichten eine Biegung und kaum waren wir um die Ecke sah ich es- keine Fegefeuer, nein. Es sah aus wie in einem CallCenter. Überall saßen Menschen und Wesen in kleinen Boxen und Beschäftigten sich. Einer hatte in einer Box sogar einen großen Berg und rollte gerade einen Stein hinauf- war das etwa Sisyphus? Die Strafe dafür, dass er den Tod mehrfach ausgetrickst hatte, indem er ihn abgefüllt hatte, war, dass er für alle Ewigkeit einen Stein den Berg hinauf rollen musste- hatte er die Spitze erreicht würde er sein altes Leben wiederbekommen. Leider rollte der Stein jedes Mal wieder den Berg hinab, kaum dass er die Spitze erreicht hatte. Durch ihn gab es die sprichwörtliche „Sisyphusarbeit". Noch etwas weiter könnte man eine mit Wasser gefüllte Box erkennen, von deren Kanten Bäume wuchsen, dessen Früchte sehr nahe am Wasser hingen. Die Strafe des Tantalus- er hatte den Göttern seinen Sohn zum Fraß vorgeworfen, um zu beweisen, dass er klüger wäre. Natürlich bemerkten die griechischen Götter es und nun stand er für den Rest seiner Tage bis zum Hals in Wasser, dass sich jedes Mal zurückzog, wenn er versuchte es zu trinken. Über seinem Kopf hingen saftige Früchte, aber jedes Mal wenn er nach einer greifen wollte, entzogen sich ihm die Äste.
Wir kamen immer näher und jetzt erkannte ich, dass jeder Box eine Nummer zugewiesen worden war. Man nummerierte die Seelen also- aber wieso? »Wieso werden diese Boxen nummeriert? Damit man einen Überblick über die Seelen hat? Oder hat das einen anderen Grund?«, fragte ich also. Lilith schnaubte nur belustigt, ehe sie mit eine Antwort gab: »Man nummeriert sie, um Ihnen ein Stück ihrer Identität zu nehmen. Ein Name hat Kraft und kann einigen wahnsinnigen Einfluss haben- denk mal an Dädalus. Wüsste jemand dass in der Box mit der Nummer 999 der größte Erfinder der Antike wohnen würde- sie würden sich alle darauf stürzen und er würde weniger unter seiner Strafe leiden, weil er seiner Arbeit nachgehen könnte.« Ich nickte verstehend. Ihre Antwort war zwar etwa wirr, aber ich verstand das Prinzip dahinter. Namen hatten Macht- das war schon immer so gewesen. Gehörte man einem bestimmten wohlhabenden Stamm an und trug deren Namen, hatten mehr Leute Respekt vor einem und man war dadurch in der Lage mehr zu erreichen. Hätte man nur eine Nummer und keinen Namen, war dies weniger der Fall. Natürlich könnte man immer noch sagen, dass Nummer 999- also Dädalus- ein netter Zeitgenosse war und ihm dadurch ein besseres Gefühl geben, aber ein Name war dennoch etwas anderes. Namen waren eben ein Stück weit unsere Seele und unsere Identität.
»Wer regiert eigentlich die Hölle? Doch nicht etwa dieser inkompetente gefallene Engel oder? Dieser- wie hieß er noch gleich? Lucifer?«, fragte ich weiter.
»Sag mal hast du vor mich mit deinen Fragen zu Tode zu quatschen? Natürlich regiert nicht Lucifer alleine die Hölle- er wechselt sich mit den anderen Höllenregenten ab. Schließlich gibt es nicht nur das Christentum- in etwa einem Jahr müsste wieder dieser Grieche, Hades, an der Reihe sein... oder Hel, die nordische Göttin des Todes. Es ist übrigens ziemlich diskriminierend, das hier als „Hölle" zu bezeichnen, es gibt schließlich viele Namen für diesen Platz: Unterwelt, Walhalla, Hades, Orkus, Abyssus, Gehenna et cetera... «, antwortete sie mittlerweile etwas genervt. Aus reiner Provokation fragte ich also weiter: »Und wie hast du das dann eben gemacht, als wir zuerst in Schottland waren, dann in der Hölle in Schottland und sich Schottland plötzlich als reine Illusion herausstellte? Das hab ich nicht ganz verstanden, kannst du mir das mal erklären?« Völlig genervt von meiner Fragerei rieb sich Lilith den Nasenknochen und fluchte irgendetwas in einer mir unverständlichen Sprache. Sie seufzte. »Es ist so: die Hölle ist kein fester Ort der sich auf einen Platz begrenzt; sie dehnt sich mit jeder Seele mehr aus und bekommt immer mehr Eingänge, sodass die Toten nicht so ewig warten müssen, um gecheckt und eingelassen zu werden. Hier in Schottland liegt allerdings keiner dieser Einlässe, weil diese verfluchten Kobolde und Heiden jeden neu entstandenen Eingang sofort wieder versiegeln- ich musste also die Barriere zwischen der Welt der Lebenden und der Toten für einen Augenblick Schwächen, dadurch wurde eine Illusion der normalen Umwelt geschaffen, damit die Hölle nicht als... sagen wir Fremdkörper... erkannt wird. Wir sind dann durch besagte Barriere hindurchgesprungen und voilà! Zufrieden?«, beantwortete sie mir widerwillig meine Frage. Ich nickte verstehend und grinste sie dann provozierend an, die nächste Frage lag mir förmlich schon auf der Zunge. Wütend funkelte mich Lilith an und fauchte dann: »Wenn du mir noch eine einzige Frage stellst... bei den Göttern, ich werde höchst persönlich dafür sorgen, dass dein kleiner niedlicher Wandler hier landet.«
Was eine blöde Schnepfe! Leise seufzte ich und stapfte dann weiter neben ihr her. Der Palast, den ich vorhin schon gesehen hätte, rückte immer näher und nun erkannte ich auch, dass er sich auf einem kleinen Hügel befand, an dessen Hängen lauter kleine Häuschen standen- jeder war auf seine eigene Art und weise etwas besonderes, eines hatten sie jedoch alle gemeinsam: sie waren alle völlig schief. Es war, als bräuchte man kaum einen Windhauch, um sie wie kleine Dominosteine umfallen zu lassen. Wir kamen der Stadt immer näher und plötzlich begann es zu schneien. Dicke weiße Flocken fielen vom wolkenverhangenem Himmel und hinterließen ein unangenehmes kaltes Kribbeln, wenn sie auf meiner Haut schmolzen. Auf meinen fragenden Blick hin erklärte Lilith mir, dass die Stadtgrenze gleichzeitig der Anfang einer Klimazone war und dass es innerhalb dieses Bezirks wie in der „normalen Welt" regnete, schneite und ab und zu auch die Sonne herauskam. Innerhalb dieser Zone hatten die Bewohner kleine Gärten mit den seltsamsten Gewächsen angebaut und damit ein paar Farbkleckse in der sonst so triste Landschaft platziert. Mit ausgestrecktem Finger zeigte sie mir nun auch Felder, die hier bewirtschaftet wurden. »...schließlich müssen wir uns hier auch irgendwie ernähren- nicht alle ernähren sich hier von Blut und Schmerz. Nur die niederen Dämonen und der Abschaum ernährt sich auf diese Art und Weise«, erklärte sie. Verstehend nickte ich und wich dann einer Horde Hühner aus, die mir gackernd entgegenkamen, ehe wir ein riesiges Tor passierten und förmlich in eine andere Welt abtauchten. Von weitem hatte die Stadt mittelalterlich und heruntergekommen gewirkt, als wir nun aber in mitten eines großen Marktplatzes standen, fiel mir auf, wie modern sie eigentlich war- wie konnte es sein, dass ich das von weitem nicht gesehen hatte? Die Gebäude waren plötzlich nicht mehr kleine schiefe Häuschen, es waren große Plattenbauten, Hochhäuser, verglaste große Bauten und überall befanden sich kleine Läden, in deren Schaufenstern ich im Vorbeilaufen die neueste Höllen-Mode sehen konnte. Staunend hatte ich die Augen aufgerissen und bewunderte die Schönheit dieser Stadt. Von der Seite musterte ich nun auch Lilith und erkannte zum ersten Mal ein Lächeln an ihr; also ein echtes Lächeln, kein fieses Feixen oder ein grausames... nein, ein echtes, ehrliches Lächeln. Sie wirkte wie ein ganz anderer Mensch, wenn sie lächelte. Es war fast als hätte ihre Aura sich einmal komplett gewandelt und würde jetzt statt in einem bedrohlichen Giftgrün in einem warmen Olivgrün um sie herum schimmern.
»Du fühlst dich hier wohl oder?«, fragte ich vorsichtig. Sie bemerkte mich nicht einmal wirklich, bis ich die Frage wiederholte, dann zog sie eine Grimasse und nickte kaum merklich. Auf den Straßen hier waren ungewöhnlich viele Leute unterwegs, die alle in eine Richtung zu laufen schienen. Leise hörte ich Lilith etwas von einer Hinrichtung murmeln und blieb stehen. »Werden hier Hinrichtungen durchgeführt? Ist das der Grund warum die alle in eine Richtung laufen? Oh es ist Ewigkeiten her, seit ich die letzte Hinrichtung gesehen hab, bitte sag mir, dass wir das noch anschauen gehen bevor du mich sonst wo hin verschleppst«, quietschte ich aufgeregt und rüttelte an ihrem Ärmel. Für Außenstehende gab das hier jetzt bestimmt ein ulkiges Bild ab- eine junge Frau Mitte Zwanzig, die wie ein kleines Kind auf und ab hüpfte und am Ärmel ihrer Freundin zupfte.
»Die Hinrichtungen hier sind nicht so banal und langweilig wie die, die du wahrscheinlich gesehen hast... aber allein um dein Gesicht zu sehen, wenn sie ihn hinrichten... ja, ich würde sagen, wir beeilen uns, dann sehen wir die Förmlichkeiten vor der Hinrichtung noch. Und das letzte Gebet dieses Hurenbocks«, antwortete sie mir und zog mich mit schnellem Schritt durch die Menschenmassen.

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