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Saras Sicht

2 Monate später, Abschlussfeier, 16 Juni

"Misses Bass, kommen sie bitte auf die Bühne, es ist Zeit für die Abschlussrede", verkündet Mr. Summit. "Ich schwöre es dir Sara, diese Rede wird lebensverändernd sein", strahlt Blaire neben mir ironisch vielsagend und erhebt sich unter zusagendem Applaus. Um ums herum sind hunderte Stühle für die Absolventen und deren Familien. Ich sitze bei Blaires Familie, da ich ja keine mehr habe.
Auf der Bühne angekommen, richtet sie das Mikrofon aus und legt ihre Hände auf dem Pult ab. Sie wartet bis alle vollkommen verstummen und beginnt zu sprechen, dabei wirkt sie selbstsicher. Darum habe ich sie einfach immer beneidet, um ihr ganzes Auftreten, ihre Aura. Egal wohin sie geht, die Leute drehen sich nach ihr um. Ich bin immer nur das Anhängsel, aber das ist nicht schlimm für mich. Ich halte mich lieber im Hintergrund auf.

"Liebe Schülerinnen und Schüler, sehr geehrte Familienmitglieder, sehr geehrte Lehrer, heute ist der Tag. Der Tag, auf den all die jungen Menschen hier ihr Leben lang warten, auf den sie jahrelang hingearbeitet haben. Einige dieser jungen Menschen wissen bestimmt schon, was sie als Nächstes machen wollen: aufs College gehen, den Betrieb der Eltern weiterführen, eine Weltreise machen, feiern gehen. Doch Andere haben noch keinen Schimmer. Das ist nicht schlimm. Jetzt ist nicht die Zeit Entscheidungen zu treffen, sondern die Zeit Fehler zu machen. Immer wieder aufs Neue. Um Erfahrungen zu sammeln, aus den Fehlern zu lernen und es beim nächsten Mal besser zu machen. Jetzt ist die Zeit Neues auszuprobieren. Also geht hinaus in die Welt und macht Sachen die ihr normalerweise nie machen würdet, vielleicht findet ihr genau so euren zukünftigen Weg. Die Schule liegt hinter euch, aber das gesamte Leben noch vor euch. Nutzt dieses Leben", mit diesen Worten bricht ein schallender Applaus und ein überwältigender Jubel aus. Blaire lächelt und verbeugt sich kurz. Dann erhält sie ihr Abschluss Zeugnis und stellt sich neben Mrs. Hambridge, unsere Schulleiterin. Sie ist die beste Absolventin unseres Jahrgangs.

"Ich werde die Namen nach Alphabet aufrufen, ihr kommt dann vor und erhält euer Zeugnis. Gut fangen wir an. Mr. Arkins", nach der Reihe kommen alle vor. Als schließlich ich vorne stehe und mein Zeugnis in der Hand halte, fühle ich mich irgendwie traurig, dass das alles jetzt zu Ende ist. Die gemeinsame Zeit mit meinen Freunden, die witzigen Momente, die Höhen und Tiefen.

Ich stelle mich neben Blaire. Als schließlich dann auch Harvey als Letzter aufgerufen wird - sein Nachname ist nämlich Williams - und auch er sein Zeugnis hat, kommt er zu Blaire und mir und umarmt uns überglücklich. "Endlich raus aus diesem Drecksladen", lauten seine Worte. Wieder erhebt sich Applaus und wir alle werfen unsere Absolventen Mützen in die Luft. Und in dem Moment fühlt es sich gut an. Es fängt an zu regnen und es ist so, als würde man reingewaschen werden von seinem alten Leben.

*

"Heute Abend gehen wir feiern", verkündet Harvey mit einem fetten Grinsen, als er sich anschnallt und losfährt. "Geht leider nicht. Meine Eltern bestehen darauf mit mir und Jason essen zu gehen. Sorry", meint Blaire und schreibt etwas am Handy. "Nicht dein Ernst", erwidert Harvey ungläubig. "Aber unsere Sara ist doch dabei", sagt Harvey wieder grinsend und mit den Augenbrauen wackelnd. "Ich passe auch. Netflix und Eiscreme warten auf mich. Genauso wie Hot Dog", gebe ich zurück. "Wow. Ihr enttäuscht mich Ladies. Aber dann eben morgen. Ich werde jetzt eh eine Woche durchfeiern", lacht er. Wir sind an meinem Haus angekommen. Ich gebe Harvey einen Kuss auf die Wange und drücke Blaire an mich. Fester als sonst. "Gut wir sehen uns dann morgen", lächelt Blaire. "Äh, ja klar", sage ich etwas kleinlaut, doch packe mein bestes Lächeln drauf. Schnell wende ich mich ab und gehe den Weg zu meinem Haus hinauf. Wäre ich nur eine Sekunde länger im Auto geblieben, hätte ich das, was ich vor habe nicht durchgezogen. Nämlich abzuhauen.

Das war das letzte Mal, dass ich die zwei sehen würde und sie wissen es nicht einmal. Ich ertappe mich dabei wir ich innehalte und mich nochmal umdrehe. Ich sehe gerade noch, wie der schwarze Mercedes in die nächste Straße einbiegt und dann verschwindet. Schließlich betrete ich das Haus und höre schon Hot Dog wie er im Wohnzimmer winselt. Er kommt schnell auf mich zu getrappt. "Na, Kumpel?", begrüße ich ihn und kraule seinen Kopf. Er schnaubt zufrieden und folgt mir hoch in mein Zimmer, wo ich erstmal duschen gehe.

Ich muss jetzt einfach nachdenken. Es ist alles vorbereitet. Es ist alles gepackt. Ich drehe den Wasserhahn auf. Hot Dog wird nicht mitkommen. Ich bringe ihn heute Nacht zu Harvey und sperre ihn in deren Garage, damit er auch dort bleibt, bis Harv ihn findet. So sehr es mich auch schmerzt, er kann einfach nicht mitkommen. Er würde mich, so schlimm es auch klingt, nur hindern. Das Wasser regnet auf mich herab. Heute Nacht werde ich mich im Stillen davonstehlen. Leider habe ich keinen Anhaltspunkt wo meine Suche starten soll, weshalb ich einfach einen Dartpfeil auf eine Karte von Amerika werfen werde. Ich weiß zwar nicht was ich mir davon erhoffe, aber ich muss hier sowieso weg, es geht nicht anders. Diese Kleinstadt kotzt mich an. Es wird keinen Brief geben, keinen Hinweis darauf wo ich hin bin, es soll so aussehen als hätte ich hier nie existiert. Ich drehe den Wasserhahn zu.

Ich ziehe mir frische Sachen über und gehe wieder ins Wohnzimmer. Dort sitze ich dann. Mehrere Minuten einfach sitzend und in die Luft starrend. Stille. Pure Stille. Die Gefühle überollen mich plötzlich. Ich vermisse meine Eltern zum ersten Mal wirklich. Davor ist mir nie tatsächlich klar geworden, dass sie tot sind, nach dem heutigen Tag schon. Ich stehe impulsiv auf und schnappe mir das nächstbeste Bild an der Wand und werfe es auf den Boden. "Wieso musste ich überleben? Hätte ich nicht auch sterben können?", schreie ich unter Tränen. Der Rahmen zerbricht und das Bild fällt auf den Boden. Ich streiche mir die Tränen weg, der Wutanfall ist vergangen. Hot Dog schmiegt sich winselnd an mein Bein und springt mich an.

Ich atme laut aus und bücke mich, um das Bild aufzuheben. Auf dem Bild bin ich, als ich vier Jahre alt war und mein Dad auf einem Spielplatz. Er schubst mich auf einer Schaukel an. Ich drehe das Bild um, doch dann bemerke ich, dass dort etwas draufsteht.

PH/A/ Versailles 1203

Das ergab keinen Sinn, wieso stehen da diese Buchstaben und dann auch noch Versailles, das Bild wurde hier gemacht, nicht in Frankreich. Die Schrift sieht aus, wie als hätte es dort jemand in Eile hingeschrieben. Es ist eindeutig Dad's Schrift. Ich weiß das, weil ich früher oft seine Unterschrift gefälscht hab.

Das Alles ist sehr merkwürdig. Ich weiß nicht wieso ich das tue, aber ich nehme ein weiteres Bild ab und auch dort steht das selbe geschrieben. Genauso wie auf den restlichen Bildern an dieser Wand. Das hat etwas zu bedeuten. Denn die kritzelige Schrift und der Stift, ein roter Kugelschreiber, ist immer gleich. Ich kann also davon ausgehen, dass alles zur selben Zeit geschrieben worden ist.

Verwirrt setze ich mich auf das Sofa und starre die Wand an. Versuche ihr Antworten zu entlocken. Inzwischen ist es draußen schon dunkel geworden und der Mond steht hoch am Himmel. Der Mond scheint in das dunkle Wohnzimmer und wirft ein kühles Licht hinein. Plötzlich fällt mir etwas auf. Irgendwie sind die Nägel in der Wand angebracht wie ein Pfeil, der nach links in die Küche zeigt. Da fällt mit ein, mein Vater hat etwa zwei Wochen vor dem Autounfall in der Wohnung renoviert und dabei auch ein paar Bilder umgehängt.

Als ich dann noch so verrückt bin und meinem dämlichen Einfall Gehör schenke, murmel ich: "Du spinnst doch Sara" vor mich hin.

In der Küche hängt nur ein Bild. Ein Bild von Dad und Mum bei ihrer Hochzeit. Ich hänge es ab und nehme das Bild aus dem Rahmen. Doch auf der Rückseite ist nur ein Schlüssel aufgemalt, in diesem stehen vier Ziffern. 1203. Das Datum an dem ich geboren wurde, dem 12. März. Moment, steht auf den anderen Bildern nicht auch diese Zahlenfolge drauf? Nachdem ich mich vergewissert habe, das dem so ist, wird mir eines klar - Dad wollte mir etwas damit sagen. Nur was? Und hat es etwas mit dem Autounfall zutun? Denn jetzt wo ich drüber nachdenke, hat er auch die Wochen vor dem Autounfall ziemlich nervös gewirkt.

Okay, ich bin wirklich verrückt, ein paar Buchstaben und Zahlen und ein aufgemalter Schlüssel bedeuten noch lange nichts. Wobei mir der Schlüssel aber sehr bekannt vorkommt. Er sieht so aus wie der, den mir mein Vater zu meinem 18 Geburtstag geschenkt hat. Eigentlich war es eine Halskette mit einem Schlüssel dran. Aber das kann nicht sein. Ich renne die Treppe hoch in mein Zimmer, mein Herz schlägt wie verrückt durch diese Entdeckung. Hot Dog folgt mir eilig.

Ich haste ins Badezimmer, denn dort habe ich sie gelassen als ich mich ausgezogen habe zum Duschen. Ich trage die Kette jeden Tag. Als ich sie in den Händen halte, stockt mir der Atem. Ich schlage mir die Hand vor den Mund. In den Schlüssel sind vier Zahlen eingraviert. 1 2 0 3.

Danke fürs Lesen! :)

On the Run (Wolves Heart)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt