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Saras Sicht

Vorsichtig blicke ich mich auf der leeren Straße um. Okay, nachdenken. Wie soll ich nach Phoenix kommen, wenn ich jetzt überall gesucht werde? Die Züge, Busse und Flugzeuge werden alle höchstwahrscheinlich jetzt kontrolliert. "Soll ich zufuß gehen?", frage ich mich verzweifelt selbst. Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Ich renne in eine dunkle Ecke in einer kleinen Gasse und stelle meinen Rucksack auf den Boden. Dann krame ich in ihm herum und fische meinen grauen Hoodie, den ich von Harvey habe, heraus und ziehe ihn mir über. Mein anderer Pullover landet im Rucksack, weil er völlig durchnässt ist. Der Vorteil an diesem Hoodie: er hat eine Kapuze, die mich vor ungewollten Blicken schützen wird. Außerdem riecht er himmlisch nach Harvey. Eigentlich habe ich den Pulli nie von ihm bekommen, sondern eher in einem heimlichen Moment mitgenommen.

Als nächstes sehe ich mich um und gehe dann einfach wieder zum Busbahnhof. Es ist ziemlich gewagt, aber ich weiß, dass dort ein Stadtplan ist und den brauche ich jetzt dringend, um herauszufinden wo die nächste Autobahn ist, damit ich nach Phoenix per Anhalter komme. Nur sind hoffentlich die Männer in den Anzügen von dort verschwunden und suchen in der Stadt nach mir.

Schnellen Schrittes, mache ich mich auf den Weg, bedacht nicht sehr aufzufallen. Der Himmel ist grau und die Wolken schwer. Es nieselt leicht auf mein Gesicht herab. Die Gebäude, auch grau, ragen hoch über meinem Kopf auf. Alles wirkt so trüb und verlassen. Und zum ersten Mal seit ich aufgebrochen bin, fühle ich mich traurig und einsam, wie als hätte ich einen großen Fehler begangen. Ich verwerfe den Gedanken schnell und laufe immer noch weiter. Aus der Ferne höre ich ein Donnergrollen. An einer Anzeigetafel sehe ich, dass es bereits zwölf Uhr Mittags ist und langsam füllen sich auch die Straßen wieder.

Zum Glück finde ich den Busbahnhof leicht wieder und gehe auf den Stadtplan, an eine Pinnwand gepinnt, zu. Ich blicke mich ein letztes Mal um und werfe dann einen Blick auf die Karte. Ich befinde mich relativ im Zentrum der Stadt, die nächste Autobahn ist ungefähr drei Kilometer südlich von meinem Standort. Außerdem sehe ich auch, dass die Autobahn nach Arizona führt. Jackpot. Ich mache mich entschlossen auf den Weg, nachdem ich den Plan in meinem Gedächtnis gespeichert habe und ziehe die Kapuze tiefer in mein Gesicht.

Mit gesammelten Kräften und neuem Mut laufe ich wieder. Und während ich so gehe, betrachte ich die Menschen, die zur Mittagszeit eilig hin und her hetzen. So ein Leben ist nichts für mich. Mit einem Bürojob, dauerndem Stress und schlechter Laune, ich bin sehr sprunghaft und brauche Abwechslung, ansonsten flippe ich aus. Nachdem ich das Zentrum verlassen habe, lässt die Hektik auch etwas nach und ich denke wieder nach. In den letzten Tagen denke ich sehr viel nach.

Die letzten 18 Stunden sind so anders verlaufen, als ich gedacht habe. Vorallem ist mir klar geworden, dass mein Dad nicht der war, für den ich ihn gehalten habe. Klar, er war mein Dad, aber er hatte irgendwie noch sowas wie ein zweites Leben, einen zweiten Beruf, von dem er mir und Mum nichts erzählt hat. Ich muss herausfinden, was es ist und wieso es mein Dad geheim gehalten hat. Und vor allem, wieso er deswegen sterben musste.

Als ich schließlich an der Autobahn ankomme, steige ich über die Leitplanke und strecke meinen Daumen in die Höhe. Zunächst fahren um die dutzend Autos vorbei, ohne mich zu beachten, aber dann fährt  schließlich doch jemand rechts ran. Ein roter, alter Truck.

"Wohin geht's?", frägt ein Mann mittleren Alters, mit starkem Texas Akzent.
"Phoenix", antworte ich und lehne mich runter ins Fenster, um den Mann besser verstehen zu können. Er wirkt vertrauenswürdig und ich vertraue meiner Menschenkenntnis.
"Ich kann dich bis zum Grand Canyon mitnehmen", lächelte er. "Okay, danke", erwider ich freundlich und steige ein.

Er fährt wieder los und ich schnalle mich an. "Auf 'er Durchreise?", frägt er. "Ja, so in der Art", antworte ich, ohne zuviel zu verraten.

In den nächsten Stunden fallen mir drei Dinge an dem Mann auf:

1. Der Mann ist sehr schweigsam, was ich gut finde, denn Lust auf Gespräche habe ich sowieso nicht.

2. Der Mann hat einen super Musikgeschmack. Ständig läuft Rock'n Roll Musik und dazu auch noch gute.

3. Der Mann hat es wirklich nicht eilig, denn er hält sich immer zu an die Geschwindigkeitsbegrenzungen.

Kurz vor der Grenze zwischen Utah und Arizona machen wir eine Pause, damit er tanken und ich mir was zu Essen kaufen kann. Meine Wahl fällt auf ein Croissant und zwei Schokoriegel.
Als wir wieder fahren, fängt er schließen doch an zu erzählen und ich höre gespannt zu, denn er ist ein guter Erzähler.

Also, sein Name ist Rick Lockwood, er wohnt in Texas auf einer Rinderfarm, hat drei Kinder und eine Frau. Neben der Rinderfarm macht er selbst Musik, ist aber nicht sehr erfolgreich, ihm macht das allerdings nichts aus.

"Eines Tages, also, beschloss ich es nur für mich zu machen und gelegentlich Pam (seiner Frau) vorzuspielen", endet er. "Und was machst du so? Du bist ja noch ziemlich jung", will er wissen und beschleunigt ein wenig. "Ach, ich weiß nicht so Recht was ich mache. Ich lebe so vor mich hin", antworte ich kurz angebunden. Ich möchte echt nicht unhöflich wirken, aber über mein Leben zu sprechen zählt nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.

Dann kehrt wieder Stille ein und sie hält bis zum Canyon an. Als wir schließlich dort ankommen, ist es schon spät Abends. "Danke nochmal fürs mitnehmen, Rick ", verabschiede ich mich und winke dem Auto hinterher. Da stehe ich jetzt, im Dunkeln. Am Rand einer Klippe des Grand Canyons. Zugegeben war ich hier noch nie, aber da es jetzt dunkel ist, sieht man nichts. Trotzdem spüre ich die Gewaltigkeit. Auf der anderen Straßenseite ist ein Zwei-Sterne Motel, das heute Nacht mein Schlafplatz sein wird, wie ich kurzerhand beschließe.

Ich überquere die Straße und öffne die Tür. Was so Zwei-Sterne Motels an sich haben, ist ein penetranter Geruch nach Schweiß und Putzmittel, der mir sofort in die Nase steigt. Der Eingangsbereich sieht gleichzeitig schäbig und gemütlich aus, fragt mich nicht, wie das zusammen gehen kann. Am Tresen steht eine ältere, knochige Lady, um die 50 Jahre alt und mit rot gefärbten, lockigen Haaren.

"Ein Zimmer, bitte", fordere ich.
"Das macht 20 Dollar die Nacht, Frühstück gibt es um 8 Uhr, bitte die Seifen und Duschgels, sowie die Handtücher hier lassen", weist sie mich an und übergibt mit einen Zimmerschlüssel mit der Nummer 21.

Ich bezahle und gehe danach die Treppe hoch in den zweiten Stock und in mein Zimmer. Alles hier in diesem Motel knarzt und die Lichter sind gedämmt, wie als würden sie seit den Neuzigern brennen, was vermutlich sogar stimmt.

Erschöpft schmeiße ich meinen Rucksack in die Ecke und lasse mich auf das knarzende Bett fallen. Ich schlafe sofort ein und träume, wie jede Nacht, von dem Autounfall.

Danke fürs Lesen! ;)

On the Run (Wolves Heart)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt