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Saras Sicht

Wir müssen irgendwann nachts angekommen sein. Ich bin wohl eingeschlafen und habe nicht mehr mitbekommen, dass wir da sind. Außerdem wird Diego mich hochgetragen haben müssen, denn als ich aufwache, kann ich mich nicht erinnern, diese Umgebung hier schon mal gesehen zu haben, selbst nicht bei Nacht. Oder gar die Glastreppe hochgestiegen zu sein. Ich richte mich auf und lasse den Raum auf mich wirken. Es ist das Wohnzimmer und alles in dem Zimmer schreit nach Luxus und Reichtum. Mal abgesehen von der riesigen Ledercouch auf der ich liege und dem großen Flachbildfernseher, der an einer brandneuen PS4 angeschlossen ist, glänzt der schwarze Marmorboden unnormal. An den Wänden hängen edle Kunstwerke und in einer Ecke steht ein kleiner Springbrunnen.

Die gesamte Nordwand besteht aus einem Panoramafenster, mit einem atemberaubenden Blick auf die Arizona Wüste und die letzten Ausläufer eines Gebirges. Von der Decke hängt ein majestätischer Kronleuchter und obwohl in diesem Raum so viele verschiedene Stile vereint sind, harmoniert alles prächtig miteinander.

Ich komme mir allerdings auch sehr fremd vor und stehe auf, um Diego zu suchen, als sich plötzlich jemand am anderen Ende der Couch räuspert, den ich offenbar nicht bemerkt habe. Es ist ein gutaussehender Junge, mit schwarzen, schulterlangen, naturlockigen Haaren und erstreckend grell-grünen Augen. "Du bist also Sara", stellt er grinsend fest und erhebt sich auch. "Lucinda", verbessere ich ihn verwirrt. "Ah ja genau Lucinda..", grinst er mich schief und mit einem wissenden Gesichtsausdruck an. Natürlich hat Diego ihn schon aufgeklärt, wer das neue Mädchen auf dem Sofa ist.

"Schön ich bin Sara und jetzt?", frage ich frech und weiß, dass ich mich falsch verhalte, da er hier immerhin wohnt und ich zu Gast bin, aber sein selbstgefälliges Grinsen geht mir auf den Geist. "Du wirst doch von den Bullen gesucht, also sag du mir was jetzt ist", antwortet er besserwisserisch. "Wo ist Diego?", frage ich einfach, ohne einfach auf seine Frage einzugehen. "Er pennt", meint er. "Und wieviel weißt du noch über mich?", frage ich stirnrunzelnd, woraufhin er wieder grinst. "Sara Jordan, aufgewachsen in einer namenlosen Kleinstadt in Kalifornien, abgehauen von zuhause und gesucht von den Bullen, weil sie wissen wollen, wo du bist, weil du irgendwie von Bedeutung bist für sie", zählt er poetisch auf.

"Liege ich soweit richtig?", will er wissen. Ich nicke irritiert. "Wie meinst du das, sie wollen wissen wo ich bin? Wer sind sie?"
"Na, sie eben. Du hast irgendwas was sie brauchen, oder du bist der Schlüssel, um etwas zu finden, was weiß ich. Jedenfalls will jemand etwas von dir. Jemand sehr hohes und wichtiges, wenn er sogar die Polizei und so unter Kontrolle hat", antwortet er und geht währenddessen die Treppe hinunter. Ich folge ihm. "Du meinst jemanden wie die Regierung?", frage ich. "Zum Beispiel. Aber es muss nicht unbedingt die Regierung sein. Hast du Hunger?", frägt er und führt mich in die offene Küche.

Wie als Bestätigung, grummelt mein Magen. Ich habe seit gestern Morgen nichts mehr gegessen. "Ja", gebe ich unnötigerweise von mir. "Sehr gut", meint er nur dazu und öffnet den Kühlschrank, während ich wie bestellt und nicht abgeholt in der Gegend rumstehe. "Setz dich ruhig", sagt er und deutet auf einen Barhocker an der Kochinsel mit Blick auf die Herdplatten und die Küche.

Ich setzte mich, währenddessen holt der Junge Eier, Speck und Orangensaft aus dem Kühlschrank. Er stellt zwei Herdplatten an und holt zwei Pfannen heraus. "Wie heißt du eigentlich?", frage ich, während er Öl auf die Pfannen gibt. "Joakim", sagt er kurzangebunden, aber freundlich. Ich beobachte ihn und mir fallen viele Dinge an ihm auf. Seine vollen Augenbrauen und Lippen, seine gebräunte Haut, seine Muskeln die sich deutlich unter dem roten T-Shirt abzeichnen. Das alles ist rein oberflächlich. Aber ich bemerke auch seine Bewegungen, die scheinbar automatisch passieren, wie als würde er oft und gerne kochen. Seine ruhige und aufgeschlossene Art. Er trägt eine Silberkette mit einem Anhänger der einen knurrenden Wolf darstellt. Mir fällt Diegos Satz von gestern ein:

"Na schön. Wolf auf Spanisch?", frägt er. "Lobo", antworte ich. "Jetzt hast du meinen Nachnamen", grinst er.

"Diego ist dein Bruder", stelle ich fest. "Halbbruder", verbessert er mich. "Macht doch keinen Unterschied, Bruder ist Bruder", gebe ich zurück, woraufhin er lächelt. Er wendet dabei geschickt den Speck und zieht zwei der Spiegeleier auf einen Teller, die anderen zwei auf einen zweiten.

Er stellt mir zwei Gläser hin und fordert mich auf Orangensaft in sie hinein zu füllen. Ich bin froh, dass ich mich nützlich machen kann und erledige meine Aufgabe. Dann nehme ich den Orangensaft und stelle ihn zurück in den Kühlschrank. Als ich mich umdrehen und wieder zu meinem Platz gehen will, stoße ich mit ihm zusammen. "Vorsicht", murmelt er und grinst wieder schief. "Selber Vorsicht", zische ich zurück, lache aber bisschen.

Joakim stellt mir meinen Teller vor die Nase und wünscht mir Guten Appetit. Ich verziehe das Gesicht zu einer Grimasse, als ich den Smiley auf dem Teller sehe. Das Eigelb der Eier sind die Augen und die Speckstreifen der Mund. Er setzt sich neben mich und fängt an zu essen. "Es bricht mir das Herz, dieses Meisterwerk von einem Kunststück zerstören zu müssen", sage ich gespielt traurig und fasse mir ans Herz. "Iss einfach", meint er schmatzend und lächelt. Mit dem ersten Bissen muss ich stöhnen, so lecker schmeckt das Essen. Wobei ich das jeden Sonntag mit meinen Eltern gegessen habe. Bei dem Gedanken an diese Sonntage, an dennen sie noch lebten, werde ich traurig und ich höre unwillkürlich auf zu essen. "Was ist", frägt er. "Entschuldigst du mich kurz", sage ich, warte seine Antwort gar nicht ab und renne durch dir nächstbeste Tür. Zum Glück ist es eine Toilette, denn da wollte ich auch hin. Ich schließe die Tür hinter mir ab und sinke auf die Knie vor der Toilettenschüssel. Alles ist bei diesem Gedanken an meine Eltern hochgekommen. Die unendliche Trauer, die Schuld, das köstliche Essen, das Joakim gemacht hat. Und dann erbreche ich mich, nicht gerade leise, in die Kloschüssel

"Hey alles okay da drin?", frägt er und klopft an die Tür. "Äh ja", presse ich mühsam hervor, da kommt schon die nächste Welle. Es tut mir um das Essen leid, aber das musste einfach raus. Ich spüle und wasche mir meinen Mund aus, denn da ist jetzt ein beißender Geschmack von der Magensäure. Ich sehe in den Spiegel und erschrecke mich. Das bin doch nicht ich, die ich da sehe! Aber doch ich bin es. Das alles ist nur unwirklich, vor drei Tagen habe ich noch meinen Schulabschluss gemacht und jetzt, bin ich in einer Villa in dem Herzen Arizonas und muss bei dem kleinsten Gedanken an meine tote Familie kotzen. Ich atme tief durch und gehe wieder hinaus. Joakim steht besorgt neben der Tür. "Hat was mit dem Essen nicht gestimmt?", frägt er. "Nein, mit mir hat etwas nicht gestimmt", gebe ich mit einem seltsamen Tonfall und einem bitteren Lächeln zurück.

Danke fürs Lesen!
(1100 Wörter)

On the Run (Wolves Heart)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt