Mama

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Es klopfte. „Amelie? Schatz bist du schon wach?" Ich saß plötzlich kerzengerade im Bett. Meine Mutter. „Was willst du hier?!", fragte ich erschrocken. Sie setzte sich an mein Bett und reichte mir eine Tasse Tee. Als ob es dafür nicht schon viel zu warm war. So Mitte Juni. Ich nahm einen Schluck. Es war der herrliche Holundertee, den mir Oma immer machte, wenn ich traurig war. „Ach Schatz. Davor wollten wir dich beschützen.", sie sah mich hoffnungsvoll an. „Das hätte hier genauso passieren können.", stellte ich trocken fest. „Das meine ich doch gar nicht. Davor, dass er dir das Herz bricht." Ich schluckte schwer: „Er hat es mir nicht gebrochen. Ich hab es mir selbst gebrochen." Sie sah mich fragend an. „Außerdem geht es euch nichts an! Ihr habt mir ganz klar gemacht, dass ihr mich nicht mehr wollt.", fügte ich schnell hinzu, um nicht auf die stumme Frage antworten zu müssen, die mir ihre Augen stellten. „Du hast uns einfach vor die Tatsache gestellt, dass wir dich verlieren." Ich schüttelte wütend den Kopf: „Das ist nicht fair, Mama. Ich habe auch ein Leben. Ich habe 25 verdammte Jahre hier bei euch verbracht. Jeder halbwegs vernünftige Mensch wäre schon längst ausgezogen, aber ich hab mich ja verpflichtet gefühlt. Ich hatte eine riesen Chance und ich wollte endlich mein eigenes Leben leben!", ich hatte meiner Mutter noch nie so deutlich die Meinung gesagt. „Amelie... Wir ... wir wussten das nicht. Schatz... gib uns noch eine Chance.", flüsterte sie. „Ich brauche Zeit, Mama. Ich ... ich habe Angst.", ich musste schon wieder weinen. Warum war ich eigentlich so nah am Wasser gebaut? Sie zog mich ohne Worte in ihre Arme. „Du hast mir so gefehlt.", flüsterte sie nach einer Weile und drückte mir einen Kuss auf den Scheitel. Die Tränen tropften auf ihren fleckenfreien weißen Rock, aber es schien ihr überhaupt nichts auszumachen. „Was soll ich nur machen?", schluchzte ich. Ich kam mir so dumm vor. „Ach Schatz...", Mama seufzte: „Die Entscheidung kann ich dir nicht abnehmen, aber ich kann dir raten, gut darüber nach zu denken." Ich vergrub mein Gesicht an ihrer Schulter und ließ den Tränen freien Lauf. „Lass dir Zeit, mein Schatz, lass dir Zeit."

Ich brauchte fast drei Tage, ehe ich überhaupt mein Bett verließ. Außer Alex, Mama und meinen Großeltern, durfte mich niemand besuchen. Der Rollstuhl stand neben meinem Bett und jedes Mal, wenn mein Blick auf ihn fiel, bekam ich einen Kloß im Hals. Ich las gerade irgendein Buch, dessen Titel ich nicht einmal kannte, und das mir meine Oma gegeben hatte, als es klopfte. Ehe ich irgendetwas sagen konnte, steckte auch schon Alex seinen Kopf herein: „Hey! Wie geht's dir?", er setzte sich zu mir aufs Bett. Ich zuckte mit den Schultern: „Wie soll's mir schon gehen?" „Solltest du nicht Physio und so was machen?" Wieder zuckte ich mit den Schultern: „Was bringt's mir? Ich kann trotzdem nicht laufen." Alex' Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig von besorgt auf wütend: „Sag mal, spinnst du?! Willst du dich jetzt wirklich so hängen lassen? Verdammt Amelie! Du bist doch die von uns, die am meisten Rückgrat hat, wenn es um Kampfgeist geht." „Im Moment habe ich praktisch gar kein Rückgrat, weil genau das mein Problem ist.", bemerkte ich trocken. „Wenn du dich jetzt nicht aufrappelst und weiter kämpfst, dann war das das letzte Mal, dass ich dich besucht habe. Ich will nicht mehr zusehen, wie du dich aufgibst!" So aufgebracht hatte ich meinen besten Freund noch nie erlebt. „Alex –", setzte ich an, aber er stand einfach auf und verließ das Zimmer. Ich drehte den Kopf zur Seite und schloss kurz die Augen, ehe ich mich aufrappelte und mich in den Rollstuhl hievte. Vielleicht hatte Alex Recht. Ich konnte doch nicht nur hier liegen und mich selbst bemitleiden.

***Das Kapitel ist jetzt etwas kürzer als sonst, aber ich hoffe ihr freut euch nach so langer Pause trotzdem***


Je t'aime (Martin Fourcade ff) *wird überarbeitet*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt