03 - Verloren

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Wie hypnotisiert starrst du den Jungen vor dir an. Haare in der Farbe von hellem Karamell umrahmen seine weichen Gesichtskonturen und verleihen ihm einen sanftmütigen, engelhaften Ausdruck. Seine ausdrucksstarken Lippen verziehen sich zu einem breiten Grinsen, bis du seine Grübchen sehen kannst. „Komm schon, sag' jetzt nicht, du kennst mich nicht mehr", sagt er zwinkernd. „Wir saßen in Englisch ein Jahr nebeneinander."

In einem kurzschlussartigen Moment der Erkenntnis, in dem dein Gehirn Bild und Name zusammenfügt, platzt es ungläubig aus dir heraus: „Nat?" „Hey, du erinnerst dich!", stellt der Junge erfreut fest und entblößt dabei zwei perfekte weiße Zahnreihen. „Gott sei Dank. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen." Mit gespielter Erleichterung wischt er sich über seine Stirn.

Deine Kinnlade klappt nach unten. Träumst du?! Das ist Nat, der mit Abstand beliebteste, begabteste und bestaussehende Junge, den deine alte Schule jemals gehabt hat, bevor er vorletztes Jahr umzog.
Jeder kannte Nat. Die Mädchen liefen ihm in Scharen hinterher; Hübsche Mädchen, Model-Mädchen. Dir als weniger hoffnungsvolle Person hat es gereicht, seine ausgeloste Sitznachbarin im Englischunterricht zu sein. Ihr seid gut miteinander ausgekommen, was angesichts seines einnehmenden Charakters keine große Bedeutung hatte. Er war höflich, du warst höflich, und nach dem Unterricht hattest du es eilig zu verschwinden, bevor der Andrang seiner vielen Bewunderer dich zertrampeln konnte. Um ehrlich zu sein bist du bis zu diesem Moment überzeugt davon gewesen, dass er deine Existenz nie richtig wahrgenommen hat.

Vermutlich schaust du ziemlich dumm aus der Wäsche, denn Nat hört mit dem Lachen wieder auf. Neugierig studiert er dich. „Alles in Ordnung?", fragt er. „Ich hab dich nicht erschreckt, oder?" Hektisch schüttelst du deinen Kopf, bekommst aber keinen Ton heraus. Im Gegensatz zu dem coolsten Jungen der Welt bist du nicht cool genug um locker zu bleiben, wenn etwas absolut Unvorhergesehenes passiert. Wie zum Beispiel von dem coolsten Jungen der Welt angesprochen zu werden wie ein alter Freund.

Ein verzagter Ausdruck huscht über Nats Gesicht, als sei er enttäuscht; Doch so schnell, wie es auftauchte, verschwindet es schon wieder und macht Platz für ein charmantes Lächeln. „Okay, ich schätze mal, wir sehen uns, (Y/N)", sagt er, „Schön, dass du hier bist!" Mit einem Kopfnicken in Richtung der anderen schlendert er davon.

•-•-•

Verträumt blickst du dem Jungen nach und wunderst dich, ob das ein Traum gewesen ist. Dem widerspricht allerdings die Tatsache, dass drei ungläubig aufgerissene Augenpaare dich anstarren, die Münder zu perfekten O's geformt, als sei dir gerade ein Zuckerwatte furzender Glückskobold aus deinem Hintern explodiert.
Erin findet ihre Sprache als Erste wieder. „Woher, um alles in der Welt, kennst du Nathan?", knurrt sie dich an. Ihr feindseliger Ton überrascht dich. Bevor du etwas erwidern kannst, packt sie dein Handgelenk und drückt so fest zu, dass du die Gabel fallenlässt. Klappernd landet sie auf dem Tablett, aber niemand beachtet sie. „W- was?", stammelst du vor den Kopf gestoßen. „Und wieso nennst du ihn Nat?!" Ihre Nägel bohren sich ins Fleisch, bis ein stechender Schmerz sich in deinen Nervenbahnen ausbreitet. Nach Luft schnappend zerrst du an ihrem Griff, doch für eine so zierliche Person besitzt Erin überraschend viel Kraft.

Stirnrunzelnd mischt Jeff sich ein: „Woah, immer mit der Ruhe, Kampfdrache". Er wirft dir einen entschuldigenden Blick zu und schafft es nach einigen Versuchen, die verkrampften Finger des Mädchens von dir zu lösen. Hastig ziehst du deine Hand zurück und rutschst weiter rückwärts, als Erin ihren Bruder abschüttelt und sich über den Tisch zu dir nach vorne beugt. „Sag, schon, (Y/N).Woher nennst du Nat?!", zischt sie mit bedrohlich funkelnden Augen.

Dein Herz schlägt dir bis zum Hals, während du die brennende Stelle auf deiner Haut massierst. Was bildet die sich überhaupt ein?! „Was geht dich das an?!", fragst du und erhältst zur Antwort ein verächtliches Schnauben. „Zuerst antwortest du auf meine Frage", fordert sie, „Danach entscheide ich, ob ich mit dir reden werde!" „Du hast wohl ‚ne Schraube locker!", fauchst du zurück. „Okay, Mädels", unterbricht Nick die angespannte Stimmung, „beruhigen wir uns erst mal und-" In diesem Moment kündigt ein volltönendes Glockenspiel das Ende der Mittagspause an.

Du springst auf und verlässt fluchtartig die Kantine. Deine Gedanken rasen. Jeder auf dem Gang scheint dich anzustarren, was natürlich Unsinn ist. Trotzdem kannst du die Hitze über deine Wangen schießen spüren. Was zur Hölle war das gerade?!

„(Y/N)!"Irgendwo hinter dir ertönt Nicks Stimme, kaum zu verstehen durch all den Lärm, den die anderen Schüler veranstalten. Augenblicklich beschleunigst du deine Schritte. Du willst nicht stehenbleiben oder dich umdrehen, auch nicht für Nick. Im halsbrecherischem Tempo hetzt du die breiten Treppenstufen nach oben, die engen Gänge entlang zurück zu deinem Klassenzimmer. Während du um die Ecke biegst, riskierst du einen scheuen Blick über deine Schulter.

Das ist ein Fehler.

•-•-•

Das Erste, was du bemerkst, ist ein Hindernis. Eine Person. Es ist keines der glorreichen Zeitlupen-Erlebnisse, in denen die Heldin eine feste, muskulöse Brust unter dem weichen Stoff im Gesicht spürt. Vielmehr ist es eines der Momente, in denen man denkt, man wäre mit voller Wucht gegen eine aufgestellte Turnmatte gerannt.

Eine Turnmatte mit einem spitzen Kinn.

Ein blendender Schmerz auf deiner Stirn folgt als Nächstes, begleitet von dem dumpfen Geräusch aufeinanderprallender Knochen. Getroffen taumelst du zur Seite und blinzelst gegen die aufkommenden Tränen an. Vor dir steht ein Junge, welcher sich leise fluchend eine Hand vor seinen Mund hält. „Was zur Hölle-" Seine hellgrauen Augen finden ihren Weg zu dir und erstarren ungläubig. „Du?" Erschrocken zuckst du beim Klang seiner schneidenden Stimme zusammen.
Zwischen den schlanken Fingern quillt ein roter Tropfen hervor. Gemächlich wird er größer und größer, bis er wie eine vollgesogene Zecke zu Boden fällt und einen runden Fleck auf dem grauen Boden bildet.

„Hey, Mann - Verdammt, bist du schnell!" Schwer atmend schließt Nick zu dir auf und bleibt abrupt stehen, als er die Situation erfasst. Sofort zieht er dich zur Seite, um dein Gesicht zu betrachten. „(Y/N)! Scheiße, hast du dir wehgetan?!" Du nimmst seine offensichtliche Sorge um dein Wohlergehen gar nicht wahr. Dein Blick ist starr auf Cion gerichtet.

Das, was da in den grauen, stürmischen Augen liegt, kann man im harmlosesten Fall als Mordlust bezeichnen. Das Blut weicht aus deinem Gesicht. Das hier ist definitiv keine Einbildung. Quälend langsam beugt der Dunkelhaarige sich zu dir herunter, bis eure Nasenspitzen sich fast berühren. Unwillkürlich hältst du den Atem an. Du könntest seine Wimpern zählen. Lange, geschwungene Wimpern... „Offensichtlich weiß jemand nicht, dass das Rennen auf den Gängen verboten ist", zischt er gefährlich leise.

Du bist verloren.

|=| Mit einigen Leuten ist eben nicht gut Kirschen essen. 🤧 Vielen Dank für eure bisherigen Reads. Fragen, Verbesserungsvorschläge oder auch Wunschvorschläge dürfen gerne hier oder unter den anderen Kapiteln dagelassen werden!

Ansonsten sehen wir uns im nächsten Kapitel!❤️

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