19 - Weißglut

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Das Blut gefriert in deinen Adern. Eine unsichtbare Hand dreht den Geräuschpegel nach unten und wirft bei dieser Gelegenheit gleich einen Schleier über dein Sichtfeld. Schlagartig fühlt sich deine Umgebung unwirklich an. Als stündest du neben dir. Benommen starrst du auf deinen blassen, ausdruckslosen Gesprächspartner, welcher immer noch in analytischer Präzision damit beschäftigt ist, den Salat in seine einzelnen Komponenten zu zerlegen. „I-ich werde was?" Deine Stimme klingt hohl. Kratzig. Helle Augen bohren sich in deine. „Hast du was gesagt?", fragt er betont ahnungslos. Vergeblich versuchst du, deine trockene Kehle zu befeuchten.

Du wirst sterben. Deine anfangs ins Stocken geratenen Gedanken rollen ruckelnd an. Niemals, protestiert dein Instinkt, Das ist absurd. Oder? Kalter Schweiß sammelt sich auf deinen Fingerspitzen. Was ist, wenn Cion Recht hat? Emily ist tot. Mit Mühe unterdrückst du ein Schaudern. Selbstmord, hältst du verwirrt dagegen. Das Mädchen wurde nicht verfolgt. Deine Gedanken brodeln. Zweifel nagt an dir. „Warum?", hauchst du. Für einen Moment erstarrt Cion in seinen Bewegungen und blickt dich leicht verwirrt an. „Was?", fragt er verständnislos.

„Warum werde ich sterben?" Aus deinem eigenen Mund hört sich das Wort nicht halb so furchteinflößend an. Neuen Mut schöpfend, greifst du nach dem Wasserglas neben dir und trinkst. Das Schlucken fällt dir zunächst schwer, als säße ein Kloß in deinem Hals, doch sobald du ihn runterwürgst, klärt die kühle Flüssigkeit deine verworrenen Gedanken. Entschlossen setzt du dein Glas wieder ab. „Wieso sollte mich jemand umbringen wollen?", fährst du fort und spürst, wie Trotz in dir heranwächst. „Ich habe niemandem einen Grund dazu gegeben. Ich habe nichts getan - Absolut gar nichts!" Mit deinem Ärger schwillt auch deine Stimme weiter an. Wütend ballst du deine Hände zu Fäusten und bemerkst zu deiner Missgunst, dass deine Handflächen immer noch feucht sind.
Feucht vor Angst. „Wenn ich den in die Finger kriege, der für das hier verantwortlich ist, dann- dann-" Allmählich verebbt deine Schimpftirade, bis du in unheilvolles Schweigen versinkst.

Vor Überraschung ist Cions Kinnlade nach unten gesunken. Unbewegt mustert er dich, bis du deine Geduld verlierst. „Was?!", blaffst du patzig und verschränkst die Arme vor deiner Brust. Wortlos klappt er seinen Mund wieder zu. Das wackelige Gebilde aus Avocado und Rucola schwebt immer noch vergessen in der Luft. Seinen Blick weiterhin auf dich gerichtet, lässt der Dunkelhaarige seine Gabel wieder sinken. „Du weißt schon, dass ich einen Scherz gemacht habe. Oder?"

Deine Gesichtszüge entgleisen. Das kann jetzt nicht sein verdammter Ernst sein. Ein wenig besorgt wartet der Junge auf eine Reaktion von dir, bis du deine Sprache wiederfindest. Tonlos sagst du: „Das ist ein Scherz." „Das war es", bestätigt er mit einem Nicken. Jetzt bist du an der Reihe, ihn mit offenem Mund anzugaffen. „Willst du mich verarschen?!" Kurze Stille. „Jetzt nicht mehr", erwidert Cion dann und setzt seine vegetarische Obduktion fort. Du weißt nicht, ob du lachen oder schreien sollst, während du ihn dabei beobachtest. Die Empörung in dir baut sich immer weiter auf, bis du den Druck nicht mehr aushältst. „Wie kannst du über so etwas Witze reißen?!", rufst du laut, die erschrocken herumgerissenen Köpfe der übrigen Restaurantbesucher ignorierend, „Darüber macht man keine Scherze!" Nun wirkt der Junge pikiert. „Wäre es dir lieber gewesen, wenn es mein Ernst gewesen wäre?", entgegnet er stirnrunzelnd. „Woher hätte ich wissen sollen, dass du einer so absurden Aussage glaubst? Entspann dich, dir passiert schon nichts."

Deine Wangen brennen, ob vor Wut oder Scham, kannst du nicht sagen. Aber Cion ist zu weit gegangen! Bevor dir klar wird, was du tust, stehst du schon auf beiden Beinen und starrst wutschnaubend auf seine regungslose Gestalt hinab. Sein unergründlicher Blick bringt dich dabei noch stärker zur Weißglut. „Du kannst mich mal!" Auf dem Absatz wirbelst du herum und verlässt im Sturmschritt das Lokal.

Zurück bleibt ein verärgert wirkender junger Mann. Abrupt legt er sein Besteck zur Seite, schiebt seinen Teller von sich und zieht den von dir vergessenen Brief wieder zu sich heran. Das verhaltene Starren der anderen Gäste nach deinem dramatischen Abgang geht ihm auf die Nerven, aber er blendet ihre lästige Präsenz aus und konzentriert sich auf die Buchstaben vor ihm. So eine hübsche Handschrift. Langsam wandert seine Hand in seine Hosentasche, wo sie einen schmalen Kugelschreiber hervorzaubert. Du bist wirklich ahnungslos, stellt er mit einer Mischung aus Bedauern und Belustigung fest, während er die Spitze seines Stifts auf dem steifen Papier ansetzt und zu schreiben beginnt.

Leise kratzt die Miene über das Blatt. Dabei ist es so einfach. So kindisch. Leichter hätte man es dir wirklich nicht machen können. Fleißig mischt er die Buchstaben, ordnet sie neu an. Wahrscheinlich hättest du sogar Spaß daran gehabt. Als er fertig ist, stützt er sein Kinn gegen seine Hand und starrt auf die neuen Worte hinab, die sich ihm offenbaren. Die sich dir hätten offenbaren sollen.

‚Ich, Du, Wir.'

Die Nachtluft schlägt ihm angenehm ins Gesicht, sobald er wieder draußen ist. Befreit hebt er seinen Kopf und macht einen tiefen Atemzug. Endlich. Die stickige Luft dort drinnen war schier unerträglich.

Seine Hand ballt sich fester um das Stück Papier in seinen Händen. Ein enttäuschtes Ziehen breitet sich in seiner Brust aus. So viel zu seinem Notfallplan. Eigentlich wollte er dir keine Angst machen - Die Vorstellung, er könnte dir unheimlich sein, schmerzt. Du solltest nur auf ihn aufmerksam werden. Deine neuen Freunde vergessen. Aber Panik bekommen?
Verneinend schüttelt er seinen Kopf. Du solltest nur begreifen, wie sehr er dich wertschätzt. Im Gegensatz zu diesen kleinen Missgeburten, die dich andauernd umschwärmen. Sie haben dich verlassen - Ist dir das nicht Beweis genug?! Er würde dich niemals im Stich lassen. Niemals.

Aus den Augenwinkeln bemerkt er eine vertraute Silhouette. Wachsam verharrt er und späht zu ihr herüber. Sofort flammt Wut in ihm auf. Dieser Junge. Ahnungslos, in entspannter Haltung, schlendert die schlanke Gestalt über die Straße. Sein selbstgefälliges Getue hat ihm nun schon so oft alles, was er sich mühsam für dich aufgebaut hat, wieder zunichte gemacht. Selbst heute konnte er es nicht lassen, deine Nähe zu suchen. Gott, wie er ihn hasst.

Erst der metallisch-salzige Geschmack seines eigenen Blutes bringt ihn wieder zur Besinnung. Bestürzt leckt er sich über den Innenraum seiner Wange und stellt fest, dass er sich das Fleisch aufgebissen hat. Das ist seine Schuld. Zähneknirschend setzt er sich in Bewegung. Alles in ihm verlangt danach, diese Witzfigur vor ihm sofort aus dem Weg zu räumen, aber er hat sich seine Lektion gemerkt. Keine übereilten Handlungen mehr. Vertrauen, er braucht dein Vertrauen. Und das wird nicht leicht zu gewinnen sein. Ein falscher Schritt, und dein Argwohn wird ihn wieder um Bahnen zurückwerfen. Er muss geduldig sein.

Und er wird dein Vertrauen erlangen.

|=| Tja, willkommen. Ich hoffe, das neue Kapitel hat euch gefallen - Ich hatte nicht erwartet, dass Cions Worte so einschlagen würden. 😂 Also entschuldigt die Auflösung! 🙈 Dafür habe ich ein wenig Stalker-Sicht am Ende hinzugefügt - Gefällt sie euch? 🤧

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