06 - Zufall

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Am nächsten Morgen wachst du von selbst auf. Etwas stört deine Ruhe, ein hartnäckiges, nagendes Gefühl, als hättest du etwas grundlegend Wichtiges vergessen. Durch die heruntergelassenen Jalousien dringen zaghafte Sonnenstrahlen und werfen helle Tupfer an die gegenüberliegende Wand. Träge räkelst du dich auf deiner warmen Schlafstätte, drehst dich herum und greifst nach deinem Handy. Kurz blendet sein Display deine an die Dunkelheit gewöhnten Augen, bevor es dir siedend heiß wieder einfällt.

Unterricht.

Verdammt noch mal, du hast vergessen, dir einen Wecker zu stellen.

Mit einem entsetzten Aufschrei springst du aus dem Bett, greifst nach den erstbesten Klamotten in deiner unmittelbaren Reichweite und rennst in das kleine Badezimmer, das zu deinem Schlafzimmer gehört. Selten warst du so schnell fertig wie an diesem schon recht späten Morgen. In deiner Hast bemerkst du gar nicht, dass du gestern Abend vergessen hast, deine Zimmertür anzuschließen, als du Minuten später durch die verdächtig ruhigen Gänge des Wohnheims hetzt. Das Letzte, was du zu den Punkten ‚Körperverletzung' und ‚Jungfrau' auf deine Liste peinlicher Merkmale setzen willst, ist ‚Zu spät am zweiten Schultag'.

Pünktlich zum letzten Glockenschlag erreichst du dein Klassenzimmer und taumelst durch die Tür. Dein Atem geht schwer, und in deiner Kehle brennt es unangenehm, sodass du nur ein ersticktes „Entschuldigung" keuchen kannst. Die ältere Dame mit der randlosen Brille und der adretten Hochsteckfrisur am Lehrerpult bedenkt dich mit einem milde erstaunten Blick, als du an ihr vorbei zu deinem Platz eilst, sagt zu deiner Erleichterung aber nichts und beginnt, das heutige Thema der Stunde an die Tafel zu schreiben.

Cions schlanke, schweigsame Gestalt ragt schon vom Weitem über die Köpfe deiner Mitschüler auf und schüchtert dich augenblicklich ein, obwohl – oder gerade weil? - der Junge mit verschränkten Armen dasitzt wie eine Statue. Wenn du es nicht besser wüsstest, würdest du ihn vor eine Wachsfigur halten, die jemand neben deinen Platz gesetzt hat. Seine Augen sind, wie schon am ersten Schultag, geschlossen, als schliefe er.

Hastig kramst du Papier und Stift hervor und merkst erst nach einer Weile, dass der Stuhl vor dir leer ist. Verwundert schaust du dich um, aber Nick ist nirgends zu sehen.

•-•-•

Der zweite Schultag vergeht um Einiges schleppender als der gestrige. Deine anfängliche Nervosität legt sich im Laufe des Vormittags, kehrt jedoch abrupt zurück, als du zur Mittagspause Erins rotblonden Haarschopf auf dem Flur erkennst. Unschlüssig näherst du dich ihr.

Ihre grünbraunen Augen fixieren konzentriert den Boden zu ihren Füßen, während sie hierhin und dorthin tippelt wie ein Kind, das etwas zu beichten hat. Die anderen Schüler werfen ihr beim Vorbeigehen neugierige Blicke zu, aber das scheint sie nicht zu stören. Mit einem Räuspern machst du sie auf dich aufmerksam und zuckst überrascht zusammen, als sie ihren Kopf herumreißt und dir etwas vor die Nase hält; Unter der riesigen, albernen Schleife und dem großen aufgeklebten Zettel mit der Aufschrift ‚SORRY' kannst du die Schokoladentafel kaum erkennen.

„Ist alles in Ordnung mit dir?", entfährt es dir irritiert. „I-ich g-glaube, ich bin dir eine Erklärung schuldig", stottert Erin errötend. Ihre großen Augen betteln dich förmlich an. „Können wir reden? Nur zu zweit?" „J-ja, natürlich", antwortest du überrumpelt. Ein erleichtertes Seufzen verlässt ihre Lippen. „Danke", sagt sie, dann lächelt sie dich zaghaft an. „Komm, es gibt viel zu erzählen."

•-•-•

„Also raus mit der Sprache. Was habt ihr gegen Nat?" Ungeduldig rutscht du auf deinem hölzernen Sitz hin und her, während du dem zierlichen Mädchen dabei zusiehst, wie sie die Schokoladentafel sorgfältig in kleine Rechtecke bricht. Nein, das ist nicht die, die sie dir geschenkt hat, und ja, Erstere wurde bereits restlos verputzt. Wie kann jemand so versessen auf Süßkram sein und trotzdem so dünn bleiben? „Sag es mir."

Sie hält kurz inne, ihre Augen huschen über dein Gesicht. „Findest du nicht, dass Nathan etwas merkwürdig ist?", fragt sie unvermittelt, senkt ihren Blick und widmet sich wieder der Schokolade. „Er sieht immer so freundlich aus. Aber wenn man ihn besser kennenlernt, zeigt er manchmal auch eine andere Seite, nicht wahr?"

Für einen Moment der Panik fragst du dich, ob sie euch gestern im Krankenzimmer beobachtet hat, verwirfst den Verdacht aber schnell wieder. Wieso hätte sie dich dann einfach alleine lassen sollen? „Vielleicht", murmelst du daher. „Wieso fragst du?"
Erin zuckt mit den Schultern. „Vielleicht solltest du vorsichtig sein, wenn Nat wieder auf dich zukommt." „Wieso?", willst du wissen. Als keine Antwort kommt, greifst du mit Nachdruck nach ihrer Hand. „Erin, erzähl mir, was hier los ist!"

Seufzend sieht sie dir endlich in die Augen. „Ich will dir keine Angst machen", erklärt sie mit besorgter Miene. „Das macht mir erst Recht Angst!" „Also gut, ich erzähl es dir. Aber du musst mir versprechen, dass du nicht mehr mit Nat reden wirst." „Wieso sollte ich so etwas versprechen?" „(Y/N), das ist mein Ernst! Versprich es mir!", wiederholt Erin stirnrunzelnd. Eindringlich starrt sie dich an, bis du langsam nickst.

Erst da lehnt sie sich aufatmend zurück. „Wir hatten mal eine Freundin", beginnt sie verdächtig leise, ihre Stimme gefasst, als hätte sie sich die folgenden Worte genauestens zurecht gelegt. „Sie hieß Emily. Sie, Nick, Jeff und ich, wir alle waren Kindheitsfreunde, und sie war auch meine allerbeste Freundin."

Etwas an ihrem Tonfall beschert dir ein flaues Gefühl im Magen. Ohne es zu merken, umklammerst du die Wasserflasche vor dir, bis das Material leise knackt. „Als Nathan vor zwei Jahren hierher kam, haben Emily und er sich sofort angefreundet", erzählt Erin weiter, „Er wurde damals sofort Jahrgangsstufensprecher, und sie Klassensprecherin. Sie haben sich dann auf einer Organisationsveranstaltung kennengelernt. Die beiden wurden quasi unzertrennlich." Ein verbitterter Ausdruck tritt in ihr Gesicht.
„Emily hatte immer weniger Zeit für uns. Ständig hing sie mit Nat ab." Den Spitznamen spuckt sie förmlich aus. „Irgendwann fing sie an, uns aus dem Weg zu gehen. Sie ignorierte uns, lief vor uns davon. Nick und Jeff meinten, ich würde mir das einbilden, aber ich wusste, dass da etwas nicht stimmt." Ihre Stimme wird mit jedem Wort brüchiger, bis sie abrupt verstummt. „Ich habe sie zur Rede gestellt. Sie hat... Sie hat mich angeschrien, sie in Ruhe zu lassen, und dann..." Mit angehaltenem Atem wartest du darauf, dass sie ihren Satz beendet. „Sie ist letztes Jahr gestorben."

Betroffen siehst du zu, wie dicke Tränen über Erins Wangen zu kullern beginnen. Mit fahrigen Bewegungen fummelt sie am Verschluss ihrer Tasche herum. „Das tut mir Leid", flüsterst du entsetzt und kramst hastig ein Taschentuch hervor, um es dem Mädchen anzubieten. Herzhaft schnäuzt sie sich die Nase. „Sie m-meinten, es w-wäre Selbstmord gewesen. Sie hatte e-einen Abschiedsb-brief verfasst und alles", flüstert sie zitternd. „Aber ich g-glaube nicht, dass sie freiwillig gestorben ist. So war Emily nicht, das hätte sie niemals getan. Es war seine Schuld."

Langsam folgst du ihrem tränenverschleierten Blick quer über den Kantinenraum, wo Nat bei einer Gruppe von Freunden sitzt und über irgendetwas herzhaft lacht. „Sieh ihn dir an, unseren Sonnenschein", zischt sie so hasserfüllt, dass du verwundert aufsiehst. „Benimmt sich genauso wie an dem Tag, an dem man ihren Tod bekannt gegeben hat."

Nachdrücklich packt sie dich am Handgelenk. Auf ihrem blassen Gesicht spiegelt sich die Angst ab. „Du siehst Emily so ähnlich, (Y/N)", haucht sie mit bangem Blick auf deine Gestalt, „(H/C) Haare, (E/C) Augen. Deshalb war ich am Anfang so erschrocken, du hast mich so sehr an sie erinnert... Ich weiß nicht, ob das bloß Zufall ist, aber bitte pass auf dich auf."

Verstört lauschst du ihren Worten und willst ihnen doch nicht glauben. Das kann nicht sein. Erin muss sich irren. Erneut wandert dein Blick zurück zu Nat, die vergangenen vierundzwanzig Stunden rasen dabei binnen weniger Sekunden an dir vorbei. Er hat dich nach zwei Jahren auf Anhieb wiedererkannt. Ist dir zum Krankenzimmer gefolgt. Zufall?

Als hätte er deine Gedanken gehört, dreht Nat seinen Kopf in deine Richtung. Seine goldbraunen Augen sind sogar über die Entfernung deutlich zu erkennen. Als er dich erblickt, verziehen sich seine Lippen zu einem strahlenden Lächeln.

|=| Ein Rätsel wäre gelöst, oder? Tja. Vielleicht war es zu durchschaubar. Was sagt die liebe Leserschaft? Zu klischeebehaftet? Hätte es ruhig spannender sein können? Aber keine Sorge. Das ist (voraussichtlich) erst der Anfang. 🤧

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