22 - Leere

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„Einen Moment, ich werde sehen, was ich tun kann", verspricht die Dame in der blauweißen Dienstkleidung mit einem reizenden Wimpernaufschlag und verschwindet hinter der Tür zu den Personalräumen. Sobald diese klickend ins Schloss gefallen ist, tröpfelt seine aufgesetzte Freundlichkeit aus seinem Gesicht wie soeben der restliche Inhalt aus dem kaputten Wasserspender neben dem Empfangstresen. Manchmal enttäuscht es ihn, wie leichtfertig sich manche Menschen manipulieren lassen.
Ein intensiver Blick, ein verlangendes, einnehmendes Ziehen in seinen Mundwinkeln, und schon wischen sie jegliche Bedenken beiseite. So töricht. So langweilig.

Sorgfältig vergewissert er sich, dass er allein auf dem Flur ist. Zeit zu handeln. Nicht ohne sich ein letztes Mal umzublicken, huscht seine schlanke Gestalt unbemerkt in Richtung der Fahrstühle, aus der er vorhin gekommen ist. Zwei für Patienten, einer für Besucher... Die gläserne Tür am Ende des breiten Korridors führt ins Treppenhaus. Lautlos schlüpft er hindurch und eilt im Dunkeln die schmalen Stufen hinab. Nun muss er mit dem Schicksal um sein Glück würfeln.

Ein nervöses Prickeln durchzieht bei diesem Gedanken seine Fingerspitzen. Seine Lippen verziehen sich zu einem sarkastischen Grinsen. Nicht alles kann einfach sein, nicht wahr? Im unteren Stockwerk angekommen, zieht er vorsichtig die Tür auf und späht prüfend in beide Richtungen der beinahe exakten Nachbildung des Raumes über ihm. Durch den wie erwartet hohen Tresen vor den Blicken des sitzenden Personals verborgen, schleicht er in geduckter Haltung die eintönige Türreihe entlang.

Zimmer Zwei-Null-Vier. Zimmer Zwei-Null-Fünf. Hier ist es. Für einen kurzen Moment hält er inne und lauscht dem leisen Zweifel in seinem Verstand. Sein Herz klopft dabei fester als sonst gegen seine Brust. Eine Warnung, nicht zu lange zu zögern. Was, wenn sein Plan nicht aufgeht? Wenn er die gewünschte Wirkung verfehlt? Zugegeben, es liegen gefährlich viele Variablen vor. Variablen, die er nicht zu hundert Prozent zu steuern vermag.

Alles oder nichts.

Erfolg oder Misserfolg.

Du.

Kurzentschlossen bückt er sich, holt den kleinen dünnen Briefumschlag aus seiner Jackentasche hervor und schiebt ihn durch den schmalen Spalt unter der Tür. Fertig.
Ein Adrenalinschub fegt jegliche Einwände davon, jetzt zählt nur noch Geschwindigkeit. Verstohlen hastet er zurück ins Treppenhaus und denkt in letzter Sekunde daran, die Tür hinter sich langsam zuzuziehen, bevor ihn seine Beine in schwindelerregender Hast ins obere Stockwerk hinauftragen.

Sein Herz klopft ihm bis zum Hals. Bitte lass sie nicht fertig sein. An der gläsernen Scheibe angelangt, peilen seine Augen sofort den noch verlassenen Tresen an. Er war schneller. Den Blick fest auf die Tür hinter der Theke gerichtet, tritt er ein und flüchtet in die Besuchertoilette, wo er nach Luft schnappend an den kalten, harten Rändern des eckigen Waschbeckens Halt sucht. Schwer stützt er sich zu beiden Seiten davon ab und zwingt seine keuchenden Atemzüge zu einem flachen, regelmäßigen Tempo. Seine stummen Bemühungen stechen gewaltig in Brust und Kehle, aber er schluckt den Schmerz tonlos hinunter.

Das war riskant. Untypisch für ihn, stellt er bestürzt fest und beugt sich noch ein Stück weiter nach vorne, bis seine Stirn den Spiegel berührt. Die schneidende Kälte seiner glatten Oberfläche betäubt seine Haut und auch die Hitze darunter. Allmählich kommt er zur Ruhe, bis seine verkrampften Muskeln sich wieder lösen. Ermattet hebt er seinen Blick und starrt an dem runden, schmierigen Fleck vorbei auf sein Antlitz. Unter dem fahlen, kalt-weißen Licht der Halogenlampe wirken seine Gesichtskonturen müde. Abgespannt. Wie kann er dir in diesem Zustand unter die Augen treten? Er muss nach Hause. Sich ausruhen. Nichts darf seine Anstrengungen verraten, oder du wirst Verdacht schöpfen. Er muss so sein, wie du ihn kennst. Ihn kennengelernt hast.

Bei der Vorstellung muss er sein Gesicht verziehen. Wie lange wird er an dieser Scharade festhalten können? Wie lange wird es dauern, bis deine großen, hilfesuchenden Augen ihn dazu bringen werden, dir alles zu beichten, dir die ganze Geschichte zu erzählen? Du weißt so wenig. So bedauernswert wenig.
Seufzend schließt er seine Augen, um sein unansehnliches Spiegelbild auszublenden. Die kühle, seine noch erhitzten Wangen umschmeichelnde Luft kommt einer Liebkosung gleich. Wie der Kuss einer Schneeflocke.

Schritt für Schritt.

Ein Kuss von dir würde sich bestimmt schöner anfühlen. Friedlicher.

Stück für Stück.

Ein dumpfes, rotierendes Geräusch aus der Richtung des Luftabzugs reißt ihn schließlich aus seiner Versunkenheit. Die Realität sieht leider noch anders aus, nämlich trostlos und leer.
Lustlos zieht er die Toilettentür wieder auf und verlässt den beengten Raum. „Sie haben Glück gehabt!", erschreckt eine viel zu grelle Stimme sein harmoniebedürftiges Gehör. Das gesuchte Medikament zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt, wedelt die verschmitzt lächelnde Frau mit der Verpackung in der Luft herum. „Ich hatte noch genau eine Packung davon in unserer Krankenhausapotheke!" Mechanisch lächelnd nimmt er das Mittel entgegen und widersteht dem Drang, dieser aufdringlichen Ziege eine Ohrfeige zu verpassen. „Vielen Dank für Ihre Mühen." „Ich bin froh, wenn ich helfen kann!"

Bei ihren Worten verwandelt sich sein Lächeln in ein spöttisches, genugtuendes Feixen. Hastig dreht er sich um, um kein Misstrauen zu erregen, und macht sich auf den Weg zu den Fahrstühlen. Und wie sie gerade geholfen hat.

|=| Tja. Die Stalker-Sicht hat es mir angetan. Und ‚Tadaaa'! Wir kennen ihn! \•^•/ Angeblich. 😏 Das macht es doch gleich viel interessanter, nicht wahr?! 😏 Wie gefällt euch dieses Kapitel? Würdet ihr euch mehr/weniger Gefühle, Beschreibungen oder Gedanken der unbekannten Person wünschen? Und wirken diese interessant? Machen sie neugierig? Helft mir doch, mich zu verbessern! \•^•/ Vielen Dank!

• Information •
Lest euch doch die Information unten im Vorwort durch! Es lohnt sich bestimmt! • 💕

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