09 - Abgelehnt

677 51 20
                                    

Es grenzt an ein Wunder, dass du das richtige Wohnheim findest, ohne dich zu verlaufen. Die wenigen Leute, die dir auf deiner Flucht begegnen, weichen erschrocken zur Seite, aber du machst dir nicht die Mühe, deine Schritte zu verlangsamen.

Dein Herz dröhnt gegen deine Rippen, deine Lunge brennt, um mit der ungewöhnlichen Belastung mitzuhalten. Völlig außer Atem taumelst du durch die verlassene Eingangshalle zu den Treppen - Das letzte, was du in diesem Moment willst, ist dich in einen beengten Aufzug zu zwängen. Nats lauernder Blick bohrt sich immer noch in deinen Nacken und treibt dich voran in die Sicherheit deines Zimmers.

Während du die Treppen hinaufrennst, merkst du, wie ein säuerlicher Geschmack sich in deinem Rachen ausbreitet. An deinem Stockwerk angekommen, legst du eine unfreiwillige Pause ein. Ein unangenehmer Druck in deinen Ohren lässt dich für einen Moment schwindeln; Wankend stößt du die gläserne Tür auf und taumelst auf den schmalen, matt erleuchteten Flur. Angeekelt verziehst du dein Gesicht, als der widerliche Geschmack sich wie schmelzendes Wachs in deiner Kehle festsetzt.

Du stolperst weiter, deine keuchenden Atemzüge prallen von den Wänden ab und fallen vielfach verstärkt zurück. Deine Stirn fühlt sich heiß an; Mit dem Handrücken wischst du dir darüber und spürst den Schweiß auf der Haut.

Ein weiterer Schwindelanfall übermannt dich und bringt dich beinahe zu Fall. Blinzelnd schleppst du dich weiter und beobachtest, wie die Türen rechts und links von dir an dir vorbeiziehen. Sie tänzeln und taumeln, als wärst du in einer abstrakten Traumwelt. Eine Tür rechts, eine links. Zwei Türen rechts, zwei links. Drei Türen rechts - dein Zimmer. Dein vor Erschöpfung gesenkter Blick fällt auf die standardisierte Fußmatte. Abrupt bleibst du stehen.

Auf der Matte liegt eine Blume.

Eine einzelne, mit einer weichen Schleife verzierte Blüte. Wie ein verrutschter Pinselstrich auf einer dunklen Leinwand liegt sie zu deinen Füßen und bildet einen gespenstischen Kontrast zu dem schmutzigen Untergrund. Benommen starrst du auf die zarten Blütenblätter hinab und fragst dich, ob es Zufall ist, dass es sich ausgerechnet um deine Lieblingssorte handelt.

Hinter dir geht eine Tür auf, dann erklingen Schritte, welche in Richtung Treppenhaus verschwinden. Du scherst dich nicht darum, sondern bleibst reglos stehen, doch als dein Handy in deiner Hand vibriert, reißt du das schmale Gerät sofort in die Höhe.

‚Gefällt sie dir?'

Das muss ein Scherz sein. Ein dummer, geschmackloser Scherz. Dies ist erst dein zweiter Schultag. Erin, Jeff und Nick sind schlichtweg übervorsichtig, Nat tut nur zur falschen Zeit die falschen Dinge und irgendein Idiot sitzt gleich hinter der Ecke und hat vor unterdrücktem Lachen Tränen in den Augen. Abgesehen davon, redest du dir fieberhaft ein, hat noch niemand auf der Schule deine Handynummer.

Nat hatte dein Handy, wispert eine gemeine Stimme in deinem Kopf, als du dich an eure Begegnung im Krankenzimmer zurückerinnerst, Er hätte deine Nummer heimlich abspeichern können.

Nein. Mechanisch schüttelst du deinen Kopf, um dich selbst davon überzeugen, dass du dich irrst. Du bist nur verunsichert über den Schulwechsel. Jemand verwechselt dich. Oder es ist ein äußerst geschmackloser Streich. Die Schritte von vorhin kommen zurück. Ohne Eile marschiert die Person durch den Gang und verschwindet wieder hinter dir im Zimmer. Für eine kurze Zeit herrscht Stille, dann hörst du, wie die Tür wieder aufgezogen wird.

„Bist du im etwa im Stehen eingeschlafen?", erklingt eine kühle, schneidende Stimme. „Oder hast du vergessen, wie man eine Tür öffnet?" Du musst dich gar nicht erst umdrehen, um den unhöflichen Sprecher zu identifizieren. Cion. „Nein", willst du sagen, aber aus deiner trockenen Kehle kommt nur ein raspelnder Laut. Du räusperst dich. „Nein, ich schlafe nicht."
Langsam drehst du dich zu seinen durchdringenden, berechnenden Augen um, mit denen Cion dich von oben bis unten mustert, und bist überrascht, wie anders er auf einmal aussieht. Er hat sein dunkles Hemd vom Vormittag gegen ein normales Baumwollshirt ausgetauscht. Ohne den hohen Kragen sieht sein Hals noch viel schmaler aus. Seine gesamte Erscheinung wirkt weicher. Weniger gefährlich.

„Und ich hab's nicht vergessen." Als Antwort betrachtet der Dunkelhaarige dich zweifelnd. „Dann geh rein und hör auf, den halben Flur zu blockieren." In seiner vornehmen Stimme schwingt ein Hauch von Irritation mit. Als er dein Zögern bemerkt, wirft er einen prüfenden Blick über deine Schulter. „Gibt es ein Problem?" „Ich... Äh..." Wie erklärst du die Situation am Besten? „Hast du Angst vor toten Pflanzen?" Cions spöttisches Grinsen reißt dich aus deiner Benommenheit. Was tust du nur? Du bist eine moderne, junge Frau, kein ängstliches kleines Kind. Nur, weil dir jemand dumme Texte auf dein Handy schickt und Blumen vor die Tür legt, musst du nicht gleich ausflippen.

Entschlossen drehst du dich um und schließt die Tür zu deinem Schlafzimmer auf. „Vergiss deine Monsterblume nicht", erinnert der hoch gewachsene Junge dich im ironischen Tonfall, als du über die Fußmatte hinwegsteigst. Du zögerst. „Die ist nicht für mich." Mit einem Knall schlägst du die Tür hinter dir zu.

•-•-•

Cions Gestalt bleibt, nachdem du dein Zimmer betreten hast, für  einen Moment auf dem Gang stehen. Seine grauen Augen ruhen auf der Blume. Mit zunehmender Verwirrung betrachtet er ihre farbenfrohen Blütenblätter und den Stiel mit den charakteristisch geformten Blättern. Wieso lehnst du so ein offensichtliches Geschenk ab? Langsam, beinahe ängstlich streckt er seine Hand nach dem Objekt aus, ergreift die Blume zwischen Daumen und Zeigefinger und hält sie näher ans Gesicht.

Sie ist noch frisch, das abgeschnittene Stielende nass, als hätte sie vor Kurzem noch im Wasser gestanden. Misstrauisch blickt er nach rechts, dann nach links, zu beiden Seiten des Flurs, doch niemand ist zu sehen. Mit einem letzten Stirnrunzeln in Richtung der Tür, durch die du verschwunden bist, dreht er sich um und geht zurück in sein Zimmer.

|=| Das Schöne an noch nicht abgeschlossenen Geschichten ist ja, dass es immer weitergeht... 🤧 Ich hoffe, euch gefallen die Kapitel bisher. Wenn nicht, bin ich immer offen für ehrliche Kritik. Wenn logische Fehler auftreten, oder keine Spannung aufkommt, muss ich es wissen! \QwQ/

ObsessionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt