16 - Präzision

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„Suchst du jemanden?" Cions dunkle Stimme durchschneidet die Stille zwischen euch. Ungeachtet dessen kann seine teilnahmslose Miene nicht über die Neugier in seinen hellgrauen Augen hinwegtäuschen. Mit einem nachdenklichen Ausdruck um seinen blassen Lippen mustert er dich von der Seite. Mittlerweile seid ihr am Gelände zu den Wohnheimen hinter dem Hauptgebäude angelangt, welches merkwürdig verlassen wirkt im Vergleich zum Vorabend. Die meisten lungern vermutlich noch auf der Auffahrt herum und hoffen auf weitere Sensationen.

Schuldbewusst schüttelst du deinen Kopf, auch wenn du es nicht lassen kannst, dich ein letztes Mal umzusehen. Dein Begleiter runzelt seine Stirn. „Möchtest du ihnen hinterherlaufen?", fragt er argwöhnisch. Seine Frage verwirrt dich. „Wem hinterherlaufen?" „Nathan und seiner Freundin." „Nein!", entgegnest du etwas zu schnell und wechselst das Thema: „Entschuldige. Worüber wolltest du mit mir reden?" „Nick hat mir soeben eine Nachricht geschickt. Er hat vergessen, dir seine Handynummer zu geben", erklärt Cion langsam. In einer beiläufigen Geste zückt er einen kleinen, zusammengefalteten Zettel und überreicht ihn dir. „Im Krankenwagen wird wohl nicht für genug Unterhaltung gesorgt."

Dir entschlüpft ein verkrampftes Lachen, während du das Papier achtlos in deine Hosentasche stopfst. „Danke." Cions Blick folgt deinen Bewegungen. „Willst du ihm nicht gleich schreiben? Er schien ziemlich große Sehnsucht nach dir zu haben." Erneut tritt dieser aufreizend spöttische Unterton in seine Stimme, an den du dich fast schon gewöhnt hast, der Ton, der dir sagt, dass nichts und niemand die schlanke Gestalt vor dir aus der Fassung bringen kann. Zu gerne hättest du sein Selbstbewusstsein, doch anstelle einer schlagfertigen Erwiderung murmelst du nur: „Eigentlich nicht."

Immer noch will das Gefühl, dass jemand dich beobachtet, nicht nachlassen. Unruhig siehst du dich wieder um, stößt aber auf genauso viel wie vor zehn Sekunden: Leere Unterrichtsgebäude, dekorative Grünanlagen und immer länger werdende Schatten vor der untergehenden Abendsonne. Aus weiter Ferne wummern Bassanlagen zu einer nicht erkennbaren Melodie. Keine Menschenseele weit und breit.

„Ist alles in Ordnung mit dir? Du verhältst dich... merkwürdig", stellt der Junge irritiert fest, aber du bist zu beschäftigt damit, deine Umgebung im Auge zu behalten. Angestrengt spähst du in die Dunkelheit einiger niedrig wachsender Bäumchen. Steht da nicht jemand?! Dein Herz macht einen Satz. „Also dann." Mit hochgezogenen Augenbrauen kehrt Cion dir den Rücken. Panisch fährst du herum. Er geht? Er lässt dich alleine? „Warte!"
Unsanft rennst du mit dem Gesicht voran in ihn hinein, als er überraschenderweise stoppt. Sichtlich gereizt dreht er sich zu dir um. „Was ist?!", herrscht er dich an. Fieberhaft suchst du nach einem Vorwand, nicht alleine zurückzubleiben. Erin ist fort, Jeff liegt im Krankenhaus und wann Nick zurückkommen wird, bleibt ebenfalls ungewiss. Wer auch immer für diese Nachrichten verantwortlich ist, könnte nur auf diese Gelegenheit gewartet haben...

Du schüttelst diesen entsetzlichen Gedanken ab und konzentrierst dich auf den Jungen vor dir. „Äh... Willst du was essen? Wir können essen gehen", schlägst du vor und beobachtest dabei, wie Cions Augenbrauen immer weiter unter den Spitzen seiner dunklen Haarsträhnen verschwinden. Seine grau umrandeten Pupillen durchbohren dich förmlich. „Du willst mit mir essen? Ist das dein Ernst?", wiederholt er im ungläubigen Tonfall.

Die Angst davor, jetzt auf dich alleine gestellt zu sein, verleiht deinem wortlosen Nicken genug Nachdruck, um dem Jungen nach einem bangen Moment des Schweigens ein Schulterzucken zu entlocken. „Meinetwegen", seufzt er ergeben. „Aber ich bestimme, wo wir essen." Zutiefst erleichtert atmest du auf und grinst ihn ein wenig zu euphorisch an. Kopfschüttelnd setzt der Dunkelhaarige sich in Bewegung.

•-•-•

Die stetig an- und abschwellenden Klänge der Krankenwagensirene, welche langsam näher kommen, sind Musik in seinen Ohren. Für einen kurzen Moment hält er Inne und lauscht der charakteristischen Melodie, um das köstliche Gefühl von Genugtuung auszukosten, welches in seinem Inneren anschwillt wie eine Seifenblase. Wer hätte gedacht, dass das Schicksal ihm so gewogen sein würde?!

Deine Freunde sind so unfassbar leicht zu übertölpeln gewesen. Zwei präparierte Mundschutze, ein wenig Nachhilfe mit dem Schraubenzieher, und schon knallt dem ersten Trottel ein Korb auf seinen Kopf. Dass der zweite ahnungslose Idiot auch noch auf ein Fahrrad steigen würde, um in der Stadt vor ein Auto zu geraten, kam unverhofft und war im gleichen Maße hocherfreulich. Ihr schiebt es womöglich auf eine Pechsträhne, aber er weiß es besser. Das hat er alleine bewerkstelligt.

Die innere Blase dehnt sich immer weiter aus, bis ihm fast schwindelig wird. Eilig erhebt er sich von seinem Platz am Schreibtisch, tritt an das Fenster im Zimmer heran und reißt es auf, wo er seinen Kopf gegen die aufkommende Brise hält. Tief inhaliert er die Abendluft und genießt mit geschlossenen Augen das Gefühl des kühlen Windes auf seiner erhitzten Haut. Dann erst dreht er sich wieder zu seiner Arbeit um.
Keine Hausaufgaben, die hat er schon längst erledigt. Sein Blick gleitet über das ausgebreitete Blatt Papier, welches  vor ihm liegt. Viel steht nicht auf der feinen, glatten Oberfläche, aber er hat dennoch Stunden damit zugebracht, sie mit aller gebührenden Präzision und Sorgfalt zu beschriften. Er will es nicht riskieren, dich durch eine schlampige Stiftführung zu verärgern. Jedes noch so kleine Geschenk für dich ist kostbar. Ein letztes Mal klingt die Sirene in der Ferne und verstummt.

Laut hörbar knackt es in seinen Gelenken, als er, sich entspannt streckend, zum Tisch zurückkehrt. Der Boden ist übersät mit zusammengeknüllten Papierkugeln.  Misslungenen Versuchen. Nach einem Blick auf die Uhr faltet er das Schriftstück zusammen und steckt es ein. Es ist spät geworden. Wenn er nicht erwischt werden will, muss er sich beeilen.

Eine Hand bereits an der Türklinke, stoppt er und denkt nach. Du wirst immer misstrauischer, das kann er spüren. Falls er dir doch über den Weg läuft, braucht er eine gute Ausrede. Seine Füße finden den Weg zurück zum Schreibtisch. Hektisch kritzelt er einige Wörter auf einen Notizblock, reißt das Blatt ab und mustert es skeptisch. Es kann nie schaden, einen Notfallplan in der Hinterhand zu behalten.

|=| Nach überraschend positivem Feedback im vorherigen Kapitel, was die ‚Du-Perspektive' anging, habe ich beschlossen, diese auch beizubehalten! Vielen Dank für eure Meinungen und Ratschläge! Kapitel 15 werde ich bis Ende Januar noch entsprechend abändern. 💕

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