05 - Schlaf

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Panisch kneifst du deine Augen zusammen. Er ist dir viel zu nahe, sein Körper, sein Gesicht, seine Lippen. Die Hitze seiner Muskeln erdrückt dich, sein Atem kitzelt dein Ohrläppchen. Mit Mühe unterdrückst du einen Aufschrei, als du eine Berührung an deiner Wange spürst.

Das weiche Gefühl auf deiner Haut verschwindet. Nach einer gefühlten Ewigkeit schnappst du nach Luft, und als nichts passiert, ein zweites Mal. Erst dann hörst du das leise Glucksen.

Sofort reißt du deine Augen wieder auf und bekommst erst mal einen gehörigen Schreck darüber, wie nahe ihr euch seid. Eine leichte Bewegung, und eure Lippen würden sich berühren. Dein Herz hämmert gegen deinen Brustkorb, aber alles, was Nat tut, ist dich zu beobachten. Ein verstohlenes Lächeln schleicht sich in sein Gesicht.
„Guck' nicht so panisch", wispert er rau, dann richtet er sich auf und tritt zurück. Die plötzlich fehlende Wärme reißt dich aus deiner Schockstarre. Benommen blinzelst du den Jungen an. „Wie gefällt dir das?", fragt dieser, sichtlich zufrieden mit sich selbst. „Das war die Rache dafür, dass du so kalt zu mir warst!" Er streckt sich ausgiebig, als hätte er sich gerade warmgelaufen. „Ziemlich überzeugend, was? Ich bin wohl ein Naturtalent."

Deine Kinnlade hängt dir vermutlich bis zu den Knien. Langsam dämmert dir, was er damit meint. „Du... hast mich verarscht?!", bemerkst du entsetzt und zuckst zusammen, als der Blonde seinen Kopf nach hinten wirft und lauthals loslacht. Das Raubtier ist verschwunden, er ist wieder der sanftmütige, charmante Engel, der sich königlich über seinen gelungenen Streich amüsiert.

Als du nicht in sein Gelächter einstimmst, verstummt er. „Wieso so wütend? Hätte ich etwa weitermachen sollen?", fragt er im lockenden Unterton. Vehement schüttelst du deinen Kopf und ignorierst die Hitze, die dir ins Gesicht schießt. „Nein, danke." „Bist du eingeschnappt?" Er betrachtet dich neugierig. „Komm schon, das war doch lustig!" „Das war total daneben von dir!", stellst du aufgebracht fest und willst an ihm vorbei zur Tür marschieren, als er dir den Weg versperrt. Erneut schleicht sich dieser eigenartig hungrige Ausdruck in sein ebenmäßiges Gesicht. Er sieht aus, als ob er auf etwas warten würde. „Sag bloß... Das wäre dein erster Kuss gewesen?", gurrt er und leckt sich genüsslich über die Lippen.

Ertappt drängst du dich an ihm vorbei und stürmst aus dem Zimmer.

Nat lässt dich gehen, zu überrascht, um zu reagieren, obwohl er schon zu seiner guten Laune zurückfindet, noch bevor du über die Türschwelle geschritten bist. „Hey, komm' zurück! Ich wär' gern der Erste, den du küsst!", ruft er dir lachend nach. Dir wird noch heißer bei seinen Worten. Scheiße, ist das peinlich!

Beschämt  trittst du hinaus in den menschenleeren Korridor. Nichts auf der Welt könnte dich jetzt noch von deiner Flucht abhalten. Selbst wenn Nat dir auf Knien rutschend folgen würde, diesmal wirst du allem standhalten-

„(Y/N), dein Handy!"

Schlitternd stemmst du deine Füße gegen den glatten Boden, machst auf dem Absatz kehrt und rennst zurück, um dem grinsenden Jungen das vergessene Gerät aus seinen Händen zu reißen. „Hör mal, das war nicht so gemeint. Eigentlich wollte ich dir sagen, dass-"

So schnell du kannst, sprintest du davon.

Nicht der beste erste Schultag...

•-•-•

„...Aber auch nicht der Schlechteste", versuchst du dich zu trösten.
Du liegst rücklings auf dem schmalen Bett deines neuen Zimmers und stierst die leere Decke über dir schon seit geraumer Zeit finster an, als sei er für den katastrophalen Tag verantwortlich. Wenn du diesen Blick auch vor Menschen drauf hättest, wäre dein Leben bestimmt um Einiges einfacher.

Die wenigen Habseligkeiten, die du mitgebracht hast, waren schnell ausgepackt, und das Abendessen hast du schlichtweg ‚vergessen'.
Nun versuchst du dich an die Hoffnung zu klammern, dass dir trotz des misslungenen Starts eine schnelle Eingewöhnung auf deiner neuen Schule möglich sein wird. „Okay, sieh es mal so", setzt du dein paranoides Selbstgespräch fort, „Du hast deinem Sitznachbarn fast die Zähne ausgeschlagen. Dafür hast du Leute gefunden, die dich im Krankenzimmer besucht haben. Diese gehen dem Typ aus dem Weg, von dem du dachtest, er würde dich nicht kennen. Er hat versucht, dich zu küssen, aber wie sich herausgestellt hat, macht er einfach nur gerne Scherze."

Eine magere Ausbeute, aber wie gesagt, es hätte dich schlimmer treffen können. Manchmal kamen neue Schülerinnen auf deine alte Schule, auf denen am ersten Tag schon herumgehackt wurde. Das letzte Mädchen war nicht auffällig gewesen. Weder dick noch dünn, ohne hässlichen Klamotten oder sonderlich schlechten Noten - Manchmal habt ihr im Unterricht nebeneinander gesessen. Sie war nett, keine langweilige Gesprächspartnerin. Aber aus irgendeinem Grund hassten einige Mitschüler sie, als sei sie die Pest. Nach einem halben Jahr verließ sie die Schule wieder. Mit einem Anflug aus Schuldgefühlen musst du dir eingestehen, dass du seitdem kein einziges Mal mehr an sie gedacht hast. Seufzend drehst du dich auf die Seite. Du spürst, wie deine Augenlider schwerer werden. Die Aufregungen des Tages fordern ihren Tribut.

Ein Summen lenkt deine Aufmerksamkeit auf dein Handy. Eine neue Nachricht von einer dir unbekannten Nummer. Keine Messengernachricht, sondern eine richtige SMS. Wie altmodisch. Schläfrig öffnest du sie, und überfliegst das einzige Wort, das auf dem hellen Display erscheint.

'Hi.'

Träge wartest du darauf, dass der Absender noch etwas hinzufügt, vorzugsweise beginnend mit den Worten ‚Ich bin...' oder ‚Wir kennen uns durch...'.
Aber nichts. Während du noch darüber grübelst, ob die Person sich verwählt hat, erscheint eine zweite Nachricht.

'Wie geht es dir?'

Das verwirrt dich. Eine Zeit lang wartest du wieder ab, bis du die Ungewissheit nicht mehr aushältst und eine Antwort verfasst.

'Wer bist du?', fragst du.

Die Müdigkeit bricht über deinen Geist herein. Dein Blick trübt sich. Anscheinend war der Tag wirklich anstrengend, denn so früh schläfst für gewöhnlich nicht ein. Die nächste Nachricht nimmst du nur noch am Rande wahr, während deine Gedanken dir entgleiten.

Hättest du damals gewusst, wohin diese SMS dich führen würden, hättest du auf der Stelle deinen Koffer gepackt und wärst wieder abgereist. Stattdessen trägt der Schlaf dich auf leisen Schwingen davon. Unbemerkt prangen die schwarzen Buchstaben auf dem noch erleuchteten Display wie die Inschrift an einem Grabstein. Heute würden sie dir einen Schauer über den Rücken jagen. Damals hast du sie nicht beachtet.

'Alles, was du willst.'

|=| Trommelwirbel und Fanfarenklang! 😆 Das kam jetzt bestimmt total überraschend. *hust* Schön, dass du es trotzdem bis hierher geschafft hast. Wenn es keine Verbesserungsvorschläge gibt, sehen wir uns hoffentlich im nächsten Kapitel wieder! 🤧

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