20 - Dilemma

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Mit wehenden Haaren stapfst du durch die nächtlichen Straßen, auf denen mittlerweile deutlich weniger Passanten unterwegs sind. In dir brodelt es vor Zorn. Was zur Hölle ist denn bei Cion schief gelaufen?! Geschmackloser kann ein Witz wirklich nicht mehr werden!

Auf der Einfahrt zu deiner Schule angelangt, verlangsamst du allmählich deine Schritte zu einem schleppenden Tempo. Trotz allem, gestehst du dir widerwillig ein, hat er versucht zu helfen. Jetzt, wo dein Ärger etwas abgekühlt ist, regt sich der Verdacht, dass dein dunkelhaariger Mitschüler nichts Persönliches gegen dich hat - Seine Verschrobenheit gehört einfach zu seinem Charakter. Und du hast ihn sitzen gelassen wie einen in Ungnade gefallenen Exfreund. Resigniert hältst du an und betrachtest das sich vor dir erstreckende Bild.

In einsamer Pracht ragt das imposante, historisch anmutende Hauptgebäude in den sternlosen Himmel auf. Seine bei Tageslicht etwas tristen Wände erstrahlen unter dem am Boden positionierten Scheinwerferlicht in einem freundlichen, orangefarbenen Ton. Vor wenigen Tagen hast du noch hier gestanden und in unverhohlener Bewunderung zu den malerischen Rankenmustern und den hohen, schmalen Fensterbogen aufgesehen. Die Morgendämmerung wirkte dabei wie ein zaghafter Vorbote eines Neuanfangs. So viel dazu, denkst du sarkastisch.

Mehr denn je vermisst du dein altes Zuhause mit seinen vertrauten Wegen und Gesichtern. Einer plötzlichen Eingebung folgend zückst du dein Handy, gibst eine Rufnummer ein und hältst es an dein Ohr. Eine Weile ertönt nur das charakteristische Tut, Tut, dann folgt ein leises Knacken. „Hallo? (Y/N), bist du das?", meldet sich eine aufgeregte Frauenstimme.
Eine Welle der Erleichterung spült eine ungeahnte Spannung in dir fort und schafft Platz für wohlige Geborgenheit. Selbst unter Tausenden würdest du ihren unverwechselbaren Klang wiedererkennen. Langsam lösen sich deine verkrampften Schultern. „Mom?", wisperst du verhalten, und räusperst dich hastig, um den aufsteigenden Kloß im Hals zu unterdrücken. „Hey, wie geht's dir?" "Gut, so wie immer, Schatz. Warum rufst du so spät noch an? Solltest du nicht im Bett sein?"

Die Wärme in ihrem beiläufigen Tadel lässt dich ungewollt schniefen. Für sie wirst du wohl immer ihr kleines Mädchen bleiben. „...Nur so. Ich wollt' wissen, wie's so bei dir läuft." „Freut mich, dass du fragst, bei uns ist alles wunderbar! Wir waren vorhin in dieser neueröffneten Parkanlage hinter dem Einkaufszentrum spazieren. Tom fand sie etwas kitschig, aber dir würde es dort gefallen, die haben alles mit bunten Blumen bepflanzt und überall kleine Spazierwege angelegt. So mit weißen und roten Steinchen, weißt du?"

Bei der Erwähnung deines Stiefvaters erlischt dein Lächeln. „Das ist schön." „Und am Wochenende machen wir eine Raftingtour! Kannst du das glauben? Dass mein Dickerchen mal mit zum Rafting kommt!" Sie lacht. „Wahrscheinlich macht er nach hundert Metern schlapp, aber das ist immer noch besser als auf der Couch zu sitzen. Er meint ja, er will jetzt mehr Sport machen. Damit wir mehr gemeinsame Hobbies haben!" Je mehr sie redet, desto schneller versackt deine Freude über euer Telefonat und weicht einem flauen, eindringlichen Stechen in der Brust. Auch dein Magen vergisst anscheinend, dass du vor Kurzem gegessen hast, denn er fühlt sich immer leerer an. Ausgebeutelt trifft es noch besser.

Deine Mutter plappert unterdessen unbekümmert weiter. „Ich will ein richtig schönes Picknick einpacken. So wie früher, erinnerst du dich? Mit belegten Brötchen, frisch gepresstem Orangensaft... Und Streuseltalern mit Buttercremefüllung! Hoffentlich bekomm' ich die auch so gut hin wie damals, wie lange ist es her, dass ich welche gemacht habe? Gott, ich weiß es gar nicht mehr!" Exakt fünf Jahre. So lange, wie sie mit Tom zusammen ist und eure Unternehmungen zu zweit schlagartig aufgehört haben. Alles hat sich nach ihm gerichtet. Du warst nur ihr Anhängsel. Ohne es zu merken, hast du deine Lippen zusammengepresst, während das Gefühl des Verrats dein Herz umwölkt. Vorhin haben dir so viele Worte auf deiner Zunge gebrannt, doch ihr unaufhörlicher Redeschwall hat alles fortgespült, zusammen mit deiner vagen Hoffnung auf Besserung.

Wen kümmern schon deine Sorgen. Solange sie Tom hat. „Mom, ich muss auflegen", presst du gerade so hervor, ehe du etwas Dummes tun kannst. Wie zu weinen. Ihre endlose Schwärmerei gerät ins Stocken. „Klar, natürlich! Es ist spät! Gott, bin ich schusselig." Mit einem Mal klingt ihr fröhliches Gelächter aufgesetzt. Fort ist die Frau, der du früher alles anvertraut hast. Jetzt gehört sie zu Tom. „Es war so schön, deine Stimme zu hören, Schatz. Du solltest öfter anrufen. Ich würd' mich ja gern zuerst melden, aber Tom erinnert mich jedes Mal daran, dass du dein eigenes Leben hast - Du bist schließlich fleißig am Lernen, damit du mal eine tolle Karrierefrau wirst!" Der hässliche Knoten in deiner Kehle zieht sich immer fester zusammen. „Das Einzige, was Kinder eben tun. Schlafen und Lernen", entgegnest du tonlos. Ergibt dein Gefasel überhaupt Sinn? Was soll's, sie geht sowieso nicht darauf ein. Am liebsten würdest du sie anschreien. Sie fragen, ob sie wirklich so ignorant ist oder nur so tut.
Aber wie gewöhnlich bringst du keinen Ton heraus. Sie hat ihre Wahl getroffen, schon vor fünf langen Jahren. Alles, was du tun musst, ist, dich damit abzufinden.

„Gute Nacht, mein Spatz. Pass auf dich auf, und wenn irgendetwas ist, ruf mich sofort an, ja?", sagt die Person am anderen Ende der Leitung zum Abschied. Dass sie auch bis zum Schluss die Ironie hinter ihren eigenen Worten nicht erkennt. Verbittert lauschst du dem leisen Klicken. Sie hat aufgelegt. Danke der Nachfrage.

Mit angehaltenem Atem steht er im Schutz der mondlosen Finsternis und lauscht dem unbeständigen Rhythmus seines eigenen Herzschlags. Seine anfängliche Freude über dieses unverhoffte Glück, deine Stimme ohne den irritierenden Lärm von anderen Mitmenschen bewundern zu können, hat sich mit jedem weiteren Wort gelegt, in der deine Enttäuschung offensichtlich wurde. Nun ringt er mit sich selbst.
Du leidest. Der wichtigste Mensch auf der ganzen weiten Welt hat Schmerzen, und er kann absolut nichts dagegen unternehmen. Rastlos krümmen und strecken sich seine Finger in dem Wunsch, auf deine einsame Gestalt zuzugehen und dich fest in seine Arme zu schließen. Tu es, verlangt sein Instinkt und reißt klirrend an den Ketten, die sein Verstand ihm angelegt hat. Denk an deinen Plan, warnt dieser ihn dagegen.

Noch nie in seinem Leben hat er sich so überfordert gefühlt. Frustriert ballt er seine Hände, bis das vertraute Gefühl aufreißender Haut den betörenden Schleier um seinen Gedanken zurückzieht. Sie könnte dich verdächtigen, wenn du jetzt auf sie zugehst. Das darf er auf keinen Fall riskieren. Andererseits hat er eine gute Erklärung für seine Anwesenheit. Eine plausible Erklärung. Gegen Vernunft wirst du kaum etwas einzuwenden haben. Langsam lässt er seinen Blick über den dunklen Platz schweifen. Hoffnung keimt in ihm auf. Vielleicht. Vielleicht hat er in diesem Moment einen Ausweg aus seinem Dilemma gefunden.

|=| Pünktlich zum Wochenende ein neues Kapitel. Die Aussicht auf mehr Stalkerperspektive schien begrüßt zu werden - Hier ist sie! 🎉 Seid doch so nett und sagt mir, wie die Stimmung war - Und das Gespräch mit der Mutter! Da ich selbst zu Hause koreanisch spreche, fehlen mir leider jegliche Vergleichswerte. 😂🙈 Ansonsten bin ich dankbar für jede Kritik! Vielen Dank!

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