04 - Zentimeter

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„Es geht mir gut, wirklich", murmelst du zum x-ten Mal, während die Schulkrankenschwester dir mit einer kleinen Lampe in die Augen leuchtet. „Alles halb so wild." Ein verächtliches Schnauben neben dir lässt dich auf die Zunge beißen. Wegen dir hat Cion eine blutige Unterlippe, und du hockst da und betonst, wie gut es dir geht.

„In Ordnung, du kannst dich für den Rest des Unterrichts hinlegen", ordnet die junge Frau mit sachlicher Miene an, bevor sie dir ein Glas Wasser und eine kleine Tablette reicht. „Nimm das hier gegen die Kopfschmerzen, und wenn sie zum Abendessen nicht verschwunden sind, kommst du noch einmal zu mir. Auf Sport oder andere hastigen Bewegungen solltest du für heute verzichten."

„Das schließt das Rennen in Schulgängen mit ein", stichelt Cion. Die junge Krankenschwester kichert zustimmend - Du hingegen wärst am liebsten im Erdboden versunken. Geknickt senkst du den Kopf und traust dich erst wieder aufzusehen, als die Schwester den Raum verlassen hat. Um den hoch gewachsenen Jungen hat sie sich zuerst gekümmert; Nun liegt er mit geschlossenen Augen auf dem blütenweißen Laken und versäumt keine Gelegenheit um zu betonen, wie lästig ihm das ist. Mit einem schuldbewussten Stich im Magen beäugst du seine ruhende Gestalt. Ohne Zweifel ist er noch sauer auf dich, und das kannst du ihm nicht verübeln.

Unschlüssig bleibst du auf deiner Liege sitzen und kratzt irgendwie genug Mut zum Sprechen zusammen: „Das mit deiner Lippe tut mir Leid." Deine Stimme klingt piepsig. Langsam öffnet Cion seine Augen und mustert dich. Sein Gesicht bleibt wie erwartet unbewegt, aber seine Haltung entspannt sich etwas. Mit einem leisem Seufzen öffnet er seine bis dahin geballten Fäuste.

„Wie geht es deinem Kopf?", fragt er dann. Überrascht antwortest du: „Gut! Ich meine - äh... Gut." Seinem skeptischen Blick nach zu urteilen dürfte deine gestammelte Aussage ihn wenig von deiner geistigen Zurechnungsfähigkeit überzeugt haben. „Bist du dir sicher?" Da ist seine Frage auch schon. „Ganz sicher", nuschelst du beschämt. „Ich glaube, ich sollte mich hinlegen." Bevor der Junge etwas erwidern kann, lässt du dich auf die schmale Matratze fallen und vergräbst dein Gesicht im Kopfkissen.

•-•-•

„(Y/N)?" Eine leise Stimme reißt dich aus dem Schlaf. „Pst, weck sie nicht auf!", zischt eine andere. „Wir können ja auch morgen mit ihr reden-" „Hier geblieben, du Giftnudel!", faucht eine dritte Stimme. Mit flatternden Lidern öffnest du deine Augen und erblickst niemand anderen als Nick, Erin und Jeff. Während Jeff und Erin besorgt aussehen, grinst Nick dich breit an: „Na, Dornröschen, endlich aufgewacht?"
„H-hi", murmelst du schlaftrunken und setzt dich unbeholfen auf. Ein Blick auf die Wanduhr verrät, dass der Unterricht seit einer halben Stunde zu Ende ist; Cions Platz liegt bereits leer neben dir, die Laken ohne eine Falte säuberlich glatt gestrichen und unter die dünne Matratze gesteckt. „Was macht ihr denn hier?"

„Wir wollten sehen, wie es dir geht", zwitschert Erin mit einem gezwungenen Lächeln, „Aber jetzt, wo es dir ja gut geht, wollen wir dich gar nicht weiter-" „Eigentlich möchte Erin dir etwas sagen", unterbricht Jeff seine Zwillingsschwester mit einem strengen Blick, „Nicht wahr?"
Die Angesprochene funkelt ihn böse an, bevor sie sich zu dir umdreht. „...Entschuldige, dass ich dich in der Pause so angemacht habe", murmelt sie kleinlaut. „Du weißt schon, wegen Nathan. Das war nicht so gemeint."

Richtig, Erins kleinen Ausraster hast du bei dem Aufruhr ganz vergessen... „Schon okay", entgegnest du zögernd. „Wieso warst du überhaupt so ... seltsam?" Du räusperst dich. „Ich meine, was ist denn mit Nat?"

„Ja, was ist mit mir?", fragt eine rauchige Stimme hinter euch. Erschrocken fahrt ihr herum.
Ein verschmitztes Lächeln im Gesicht, die wunderschönen goldenen Pupillen auf dich gerichtet, steht Nat am Türrahmen und klopft dagegen, wie um sich ankündigen. Das Licht der Nachmittagssonne taucht sein ebenmäßiges Gesicht in einen warmen Glanz, seine hellen Haare schimmern. Besonders gläubig bist du nicht, aber wenn es Engel gäbe, käme seine Erscheinung ihnen verdammt nahe. Sein Lächeln vertieft sich, als er eure steinernen Mienen wahrnimmt. „Tut mir Leid, wenn ich euch erschreckt habe. Ich wollte sehen, wie es (Y/N) geht."

Wie von einer Tarantel gestochen springt Erin vom Sitz auf. Ihr alarmierter Blick springt zwischen dir und dem Jungen an der Tür hin und her. „Das ist schön", sagt sie mit gepresster Stimme, packt mit je einer Hand Nick und Jeff am Arm und zerrt die beiden zum Ausgang. „Bis morgen!", wispert sie dir über ihre Schulter hinweg zu, während die drei an Nat vorbei eilen.
Für den Bruchteil einer Sekunde bildest du dir ein, dass sie deinen Besucher abweisend, beinahe feindselig anstarren, bevor sie aus eurer Sicht verschwinden. Sprachlos und mit offenem Mund siehst du ihnen nach.

„Deine neuen Freunde haben es ganz schön eilig", lacht Nat. Kopfschüttelnd setzt er sich wieder in Bewegung und setzt sich neben dich auf den Rand der Liege. Dabei berühren sich eure Arme; Überrumpelt von so viel Nähe rückst du zur Seite und spürst, wie du beobachtet wirst. Bestimmt hast du gerade bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit einer überreifen Tomate, denn deine Wangen brennen wie Feuer. Wenn, dann lässt Nat sich jedoch nichts anmerken. Stattdessen fragt er: „Wie geht es dir? Hat Cion dir wehgetan?"

Dass er davon ausgeht, dass Cion Schuld an eurem Zusammenstoß ist, macht es nur noch peinlicher. „Eigentlich habe ich ihn verletzt. Es war meine Schuld." Was will er überhaupt hier? Verstohlen schielst du in seine Richtung. Zuerst spricht er dich in der Pause an und tut so, als wärt ihr beste Freunde. Dann besucht er dich im Krankenzimmer, woher auch immer er wusste, was passiert ist. Nichts davon ergibt einen Sinn. Und jetzt... Ja, was macht ihr jetzt?

Natürlich bemerkt er deinen Blick. Seine Mundwinkel zucken verdächtig, als er eine kleine, verschlossene Flasche aus seiner Tasche holt und dir mit einer beiläufigen Geste zuwirft. „Hier, das ist für dich."
Ungeschickt fängst du sie auf und starrst verblüfft auf den Vitamindrink hinab. „Damit du schnell wieder gesund wirst", erklärt er hilfsbereit, als wolle er deine grauen Gehirnzellen nicht überanstrengen. Seine Augen funkeln dich erwartungsvoll an.
„Äh... Danke", sagst du vorsichtig. Es klingt mehr wie eine Frage denn wie eine Antwort, aber scheinbar reicht ihm das aus, denn er verfällt in ein zufriedenes Schweigen. Du bist nicht durstig, aber Nat sieht nicht so aus, als ob er gehen würde, bevor er nicht gesehen hat, wie du trinkst. Unter seinem gespannten Blick öffnest du die Flasche und trinkst ihren süßen Inhalt in langsamen Zügen aus. In der einsetzenden Stille klingt das Ticken der Uhr wie ein Gewehrfeuer.

Sei Starren macht dich immer nervöser. Entschlossen kippst du den Rest in einem Zug hinunter und stehst auf. „Also, ich will dich nicht weiter aufhalten. Danke für den Drink." Du ringst dir ein missglücktes Lächeln ab.

Sofort läuft eine Veränderung durch Nat. Ein Schatten verdüstert seine Mimik, mit einem Ruck steht er auf und baut sich vor dir auf. „Du gehst mir schon wieder aus dem Weg", stellt er fest. Er klingt verärgert, während er das sagt. „Wie heute in der Mittagspause." Verwundert bleibst du stehen. „Das ist nicht wahr." „Ach nein?" Die beiden runden Topaze fixieren dich. Ein ernster, resignierter Zug tritt auf seine Lippen. „Bist du dir sicher?" „Ja." Unschlüssig weichst du zurück, als dein Gegenüber sich dabei immer weiter nach vorne beugt. War Nat schon immer so aufdringlich?

Du stößt gegen den Rand deiner Liege und stemmst dich dagegen, um nicht nach hinten umzufallen, aber Nat macht keine Anstalten, stehenzubleiben. Plötzlich wirkt er unergründlich. Seine sanfte, warme Ausstrahlung ist verschwunden; Stattdessen sieht er dich lauernd an, wie ein hungriger Wolf seine Beute. Entsetzt starrst du ihn an. „Nat?" Er feixt. „Wieso weichst du mir aus?" Seine Stimme ist ein verführerisches Schnurren, bei dessen Klang ein Schauer über deinen Rücken rinnt.

Er ist dir so nahe, dass du deinen Kopf drehen musst, um nicht mit ihm zusammenzustoßen. Seine breiten Schultern versperren dir die Sicht, seine zu beiden Seiten von dir abgestützten Arme machen dich bewegungsunfähig. Hitze lodert in seinen Augen und wirft feine zitronengelbe Tupfer auf die Pupillen. Wie Honig sickern sie in deinen Verstand, umwickeln ihn mit klebrig süßen Fäden. Wie gelähmt hältst du den Atem an.

Noch ein Zentimeter, und du fällst nach hinten.

Noch ein Zentimeter, und eure Lippen berühren sich.

|=| Tja, komische Freunde, ein mies gelaunter Creep und jetzt auch noch ein... Ja, was ist Nat überhaupt? 🤧 Bis jetzt könnte der erste Schultag doch nicht besser verlaufen. Kritisiert die Geschichte und meinen Schreibstil bitte, und danach sehen wir uns (hoffentlich) im nächsten Kapitel! 😏

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