Der köstliche Duft von Speisen aller Art liegt dir angenehm in deiner Nase, während du, dich nach hinten lehnend, den letzten Bissen deiner Mahlzeit runterschluckst. Zum wiederholten Mal an diesem Abend siehst du dich dabei um.
Ihr befindet euch in einem tief gelegenen, schmalen Etablissement, dessen steinernen Wände bogenförmig auf die niedrige Decke zulaufen und welches lang gestreckt ist wie ein Hasenrücken. Laut Cion ein ehemaliger Weinkeller, wird das heute mäßig besuchte Restaurant von zahlreichen flackernden Kerzenlichtern in ein einheimeliges Halbdunkel getaucht. Die weichen Töne einer Konzertgitarre untermalen das unaufdringliche Gemurmel der anderen Gäste, begleitet vom Klimpern ihres Bestecks, und verleihen dem Lokal eine friedfertige Atmosphäre. Irgendwie hast du nicht erwartet, dass der zugeknöpfte Workaholic eine derart stimmungsvolle Örtlichkeit aufsuchen, geschweige denn kennen würde. Fasziniert bleibt dein Blick an dem tänzelnden Spiel der Lichtreflexe hängen, welche sich an den matten, kugelrunden Fensterscheiben schräg über dir spiegeln.
Nachdem das freundliche Personal euch an einen Platz weiter abseits der übrigen Besucher geführt hat, hast du neugierig die vielfältige Speisekarte studiert und ein dir unbekanntes Gericht bestellt, welches erstaunlich gut geschmeckt hat. Nun, ein Abendessen und eine stockend vorgetragene Erklärung später, sitzt du auf deinen Handflächen und wippst vor und zurück, während du darauf wartest, dass Cion etwas sagt. Dein sonst so zynischer Mitschüler erwies sich als unerwartet aufmerksamer Zuhörer und hat dich kein einziges Mal bei deinen Schilderungen unterbrochen.
Jetzt scheint er zu überlegen. Die Fingerspitzen vor seinem Mund aneinander gepresst, blicken seine grauen Augen gedankenversunken ins Leere. Sein exotisches Gericht aus gedämpften Teigtaschen und einer abenteuerlichen Salatkomposition mit Sojasprossen, Rucola, Avocado und frischen Ananasstücken hat er kaum angerührt.
Schließlich hältst du sein Schweigen nicht mehr aus. „Also? Was sagst du?", fragst du nervös und reißt ihn damit aus seinen Grübeleien. „Ist es... Ich meine, denkst du...?" Peinlich berührt verstummst du wieder.Der Gefragte betrachtet dich eingehend, bevor er im nüchternen Tonfall erwidert: „Ich denke, du machst dir zu viele Sorgen. Vielleicht fällst du nur auf einen kindischen Streich herein. Und diese... Unfälle können reiner Zufall gewesen sein."
Übersetzung: Komm runter, paranoide Ziege. Du fühlst, wie alle Luft aus dir weicht. Kleinlaut sackst du in dich zusammen und starrst auf deinen leeren Teller. „Aber wir können nicht leugnen, dass dir jemand hinterher spioniert", fährt Cion nahtlos fort. „Bist du dir sicher, dass dir keine verdächtige Person aufgefallen ist? Auch nicht im Café?" Bedrückt schüttelst du deinen Kopf. „Darf ich mir deine Nachrichten einmal ansehen?"Erneut lauschst du nur den Hintergrundgeräuschen, während Cion deinen Nachrichtenverlauf auf deinem Handy durchscrollt. Unten angelangt, hält er dir das Display vor die Nase. ‚ICH HABE DICH GEWARNT.' „Kam das bevor oder nachdem deine Freundin diesen Anruf erhalten hat?", fragt er. Auf die Botschaft starrend, gräbst du in deinem Gedächtnis nach den Erinnerungen der vergangenen vierundzwanzig Stunden. Das Gefühl der Panik, das dich befiel, ist fast das Einzige, was einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Das, und das Bild von Erins tränenüberströmtem Gesicht. Nervös beginnst du, auf deiner Unterlippe zu kauen. „Davor, glaube ich", sagst du dann zögerlich. „Aber ihr Anruf müsste fast zeitgleich gekommen sein. Glaubst du, dass das so geplant war?"
„Wer weiß." Mit einem nachdenklichen Blick betrachtet Cion wieder die SMS, bevor er dir das Gerät über die makellos weiße Tischdecke hinweg zuschiebt. „Der Brief?" Auffordernd hält er seine Hand hoch, bis du das nachlässig eingesteckte Blatt aus deiner Jackentasche gezogen und ihm überreicht hast. Für dieses nimmt er sich sogar noch deutlich mehr Zeit.
Immer zappeliger siehst du zu, wie seine schlanken Finger sachte über die feinen Linien fahren, als hoffe er, einen verborgenen Hinweis zu entdecken. „Und?!", platzt es letztlich aus dir heraus, „Was bedeutet das?!" „Kannst du es dir nicht denken?", kommt es prompt zurück. Du blinzelst überrascht. „Nein." „Keine Ideen?" Frustriert presst du deine Lippen aufeinander. „Nein."
Der Vorwurf in Cions scharfsinnigen Augen ist unübersehbar. Aufreizend langsam dreht er das hochwertige Papier, sodass du eine uneingeschränkte Sicht auf die Handschrift hast, dann lehnt er sich mit verschränkten Armen zurück. „Lies", befiehlt er knapp.Stirnrunzelnd inspizierst du die verschlungenen Buchstaben. ‚Hoffnung, Instinkt, Chaos. Ich warte und rufe dich.' Eine Botschaft, so viel ist klar. Und sie hat - Überraschung - mit Hoffnung, Instinkt und Chaos zu tun. Und weiter? So sehr du auch nachdenkst, dir will keine plausible Lösung einfallen. Nachdem du mit einigen möglichen Ansätzen in deinem Kopf jongliert hast, gibst du auf. „Tut mir Leid, ich bin kein großer Fan von Wortspielen."
„Das merkt man", lautet Cions unleidliche Antwort. Er hat dich keine Sekunde aus den Augen gelassen, während du über die Bedeutung der Worte gerätselt hast. Nun wirkt er fast schon enttäuscht, als würde die Gesellschaft einer nicht intelligenten Person ihn deprimieren. „Ich habe wohl zu viel von dir erwartet." „Vielleicht ist es ein Zitat", schlägst du vor, aber der Junge schüttelt verneinend den Kopf. „Selbst wenn, wäre er zu unbekannt. Derjenige, der dir diesen Brief hinterlassen hat, wollte, dass du etwas darin erkennst." „Und wenn er es nicht wollte?" Du kannst selbst nicht glauben, dass du das sagst, aber im Ausgleich zu deiner Begeisterungslosigkeit für Interpretationen hast du schon immer eine blühende Fantasie besessen. Nun spinnen sich die Gedankenfäden wie von selbst, als du mit hohler Stimme fortfährst: „Das kennt man doch aus unheimlichen Büchern oder Filmen. Man erhält eine geheimnisvolle Botschaft, die man unmöglich entschlüsseln kann, bevor es nicht zu spät ist. Als würde der Täter gar nicht wollen, dass man eine reelle Aussicht auf ein Entkommen hat."Noch bevor du zu Ende gesprochen hast, kehrt deine Angst zurück. Abrupt schaust du über deine Schulter. Die wohlige Wärme, die dich soeben noch umgab, ist verschwunden. Schlagartig klingt das Gelächter der Menschen nicht mehr fröhlich, sondern hämisch und verlogen. Ihre Münder verziehen sich zu grauenhaften Fratzen, spitz und gierig blitzen ihre Zähne auf. Dein Verstand gaukelt dir vor, dass unzählige Augen, verborgen in den Schatten, dich beobachten. Eine Gänsehaut kriecht über deinen Nacken. Es war ein Fehler, dich zu entspannen. Im Café hast du den Unbekannten auch nicht erkannt. Wer sagt, dass er nicht auch hier ist? Ohne es zu ahnen, ballt sich deine Hand fester um dein Handy.
Cions Gesichtszüge entgleisen ein wenig angesichts deines plötzlichen Stimmungsumschwungs. Wie vor den Kopf gestoßen mustert er dich. „Das ist kein dummer Gedanke", sagt er dann langsam. Sein unerwartetes Zugeständnis zwingt deine Aufmerksamkeit zurück an euren Tisch. „Wirklich?", fragst du verblüfft. Er nickt. „Er ist plausibel. Und er deckt sich mit dem, was sich in der Botschaft verbirgt." Dein Atem gerät ins Stocken, jede Faser deines Körpers verkrampft sich gleichzeitig. Furchtsam rückst du näher an ihn heran. Du musst es endlich wissen. „Was? Was bedeuten diese Worte?", flüsterst du.
Im gemächlichen Tempo greift der Junge nach der silbernen Gabel neben seinem Teller. Spielerisch lässt er sie zwischen Daumen und Zeigefinger ausbalancieren, bevor er sie bedächtig in eines der Ananasstückchen versenkt. „Sie bedeuten, dass du sterben wirst", teilt er dir dann elegant mit und beißt genüsslich in die Frucht.
|=| Bitte nicht so rücksichtsvoll, lieber Cion. 😂 Wie dem auch sei. Äh, das klingt jetzt womöglich sehr dramatisch. Ich hoffe, ihr seid jetzt nicht zu entsetzt darüber. Oder so. Macht das Ende neugierig auf das nächste Kapitel? Ich bin heute so furchtbar verpeilt. 🙈 Wenn euch dieses Kapitel gefallen hat, lasst mir doch ein Sternchen da, damit ich weiß, dass ich weiterschreiben soll. Wenn nicht: In den Kommentaren ist immer Platz für Fehlerkorrekturen, Feedback und Kritik! Danke! 🤧
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Obsession
Mystery / ThrillerDie Nächte sind am Schlimmsten. Die bedrohliche Leere gewinnt an Überhand, sobald er das Licht ausschaltet. Sie schleicht sich in seinen Verstand, verhöhnt ihn, lacht ihn aus. Erinnert ihn daran, dass ein weiterer erfolgloser Tag vergangen ist. Dass...