12 - Ansprechpartner

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Mit wachsender Ungeduld stehst du vor der Tür und beäugst ihre silbrige Klinke. Das mattglänzende Metall verströmt eine Aura von bedrückender Schwermut, als wolle es dich davor warnen, einzutreten. In deinem Leben hast du schon weit größere Herausforderungen gemeistert als geschlossene Türen.
Aber du hast bis jetzt auch nie mit vollen Händen einen Drehknauf betätigen müssen.

Wieso bist du noch mal hier?

Der verlockende Duft von Braten und Gemüse steigt in deine Nase. Verärgert betrachtest du das abgedeckte Tablett in deinen Händen. Dass es einen ‚Dienstplan' für deine Jahrgangsstufe gibt, hast du gar nicht gewusst. Bis Lauren dir heute Morgen davon erzählte.

„Du bist heute für das Abschließen der Klassenzimmer nach dem Unterricht zuständig", klärte diese dich über diesen Missstand auf. „Ich will dich fragen, ob du deine Aufgabe mit mir tauschst." Skeptisch hast du sie angestarrt, bis das hübsche Mädchen mit einem gewinnenden Lächeln hinzufügte: „Ich verspreche, dass dir meine Aufgabe besser gefallen wird. Du wirst damit sogar viel schneller fertig sein!"

Verdrossen schaust du dich nach Hilfe um und fragst dich dabei, ob es so klug war, Laurens Bitte nachzugeben.
„Weißt du, manchmal werden Mitglieder der Schülervertretung für Arbeiten der Schule vom Unterricht befreit. Wenn das geschieht, bringt ein Klassenkamerad nach dem Unterricht ein spätes Mittagessen im Büro vorbei", hallen ihre sorgfältigen Worte in deinem Kopf wieder. „Tauschst du mit mir? Du würdest mir einen riesigen Gefallen damit tun."

Gefallen. Das Teufelswort.

Seufzend drehst du dich um, näherst dich rücklings der Tür und kickst mit deiner Ferse gegen das schwere Material. „Herein", tönt eine gedämpfte Stimme aus dem Inneren. Das war ja klar. „Tut mir Leid, ich habe keine Hand frei", entgegnest du in der Hoffnung, dass der Sprecher deinen Wink mit dem Zaunpfahl bemerkt. In der darauffolgenden Stille befürchtest du schon das Gegenteil, aber dann hörst du ein leises, metallisches Klicken. Lautlos schwingt die Tür nach innen auf.

•-•-•

Cion guckt fast noch entgeisterter als du. Um nicht zu sagen, wie ein Geist, denn mit dem abgedunkelten Raum im Rücken wirkt seine helle Haut noch blutleerer als sonst.
Schweigend starrt ihr einander in die Augen. Seine grauen Pupillen erinnern dich an einen sturmgepeitschten Wolkenhimmel, als stecke unter seiner makellosen Oberfläche eine uneinnehmbare Naturgewalt.

Der Junge verliert seine Geduld als Erster. „Was machst du hier?" Er klingt vorwurfsvoll, als hättest du einen Fehler gemacht. Eingeschüchtert hältst du das Tablett in die Höhe. „Ich soll was zu essen vorbeibringen." Erst jetzt fällt sein Blick auf dein Mitbringsel. Aus irgendeinem Grund wird seine Miene dabei noch düsterer, aber er nickt und tritt beiseite.

In dem spärlich beleuchteten Zimmer kannst du die Umrisse einiger Tische ausmachen. Beladen mit dicken Aktenordnern und Papierstapeln, stehen sie in zwei gegenüberliegenden Reihen in der Mitte des lang getreckten Raumes.
Am Schreibtisch hinten links brennt die Lampe. Du willst gerade auf sie zuschreiten, als ein plötzliches Summen dich überrascht. Erschrocken wirbelst du herum. Unter der Abdeckung des Tabletts klirrt es verdächtig.

Mit ungerührter Miene hält Cion den Schalter zur Betätigung der Jalousien gedrückt und hebt angesichts deines peinlichen Verhaltens eine Augenbraue. Im schleppenden Tempo weichen die Schatten dem grellen Tageslicht. „Wieso bringst du mir das Essen?", fragt er, sobald es hell genug ist, nimmt dir das Tablett ab und stellt es auf eine freie Fläche. Verlegen siehst du zu, wie er prüfend die Haube entfernt. „Lauren hat mich darum gebeten, mit ihr zu tauschen."

Stille. „Wer?"

„Lauren", wiederholst du bereitwillig, „Sie ist in unserer Klasse. Braune Haare, grüne Augen..." Oder waren es blaue? „Sie ist sehr hübsch. Sie hat mich gestern auf der Party gesehen, und... Ich weiß nicht, warst du auch da...?" Mit jedem Wort verfinstert sich sein Blick, bis er dich so übellaunig anstiert, dass du von selbst verstummst. Seine unergründlichen Pupillen fixieren dich. Langsam kommt er auf dich zu. „Sehe ich so aus, als ob mich interessiert, wie hübsch sie ist?", knurrt er dabei gereizt. Kopfschütteln, Kopfschütteln. „Oder als ob ich in meiner Freizeit nichts Sinnvolleres zu tun hätte als mir dämliche Namen zu merken, damit ich mit dir darüber reden kann?!" Nachdrückliches Kopfschütteln.

Nur noch ein halber Meter Teppichboden liegt zwischen euch, als Cion sich vor dir aufbaut und dich mit strenger Miene fixiert. Du wagst es nicht zu blinzeln, als du in seine unergründlichen Pupillen starrst.
Es vergeht eine Minute, dann zwei. Allmählich verschwindet der harte Zug um seinen Mund. Stück für Stück tröpfelt die Kälte von dem dunkelhaarigen Jungen ab, bis er zu deinem Staunen erschöpft aufseufzt. „Du bist neu auf der Schule", bemerkt er. „Neue Schüler sind in ihrem ersten Jahr vom Dienst befreit. Wer auch immer das war, hat dich reingelegt."

Verstört runzelst du deine Stirn. „Aber Lauren meinte... Sie hat..." „Sie hat gelogen", ergänzt Cion trocken. Seine grauen Augen studieren dich aufmerksam. „Wahrscheinlich wollte sie sich vor ihrer Aufgabe drücken."

Jetzt fühlst du dich wirklich dumm. Dumm, naiv und einfältig.
Wie ein begossener Pudel starrst du auf deine Schuhe hinab und fragst dich, wie blöd man sein kann. Du bist nicht einmal wütend auf Lauren, immerhin hättest du dich jederzeit über den Wahrheitsgehalt ihrer Aussage informieren können. Du warst einfach zu unselbstständig, und deine opportunistische Mitschülerin hat das ausgenutzt. Genauso, wie der fremde Nachrichtenschreiber es mit deiner Angst getan hat.

„Du hast ihr wirklich geglaubt, was?", stellt Cion kopfschüttelnd fest und streckt seine Hand aus. Sein Tonfall drückt weder Spott noch Mitgefühl aus, als er dich auffordert: „Gib mir dein Handy" Schweigend überreichst du ihm das gewünschte Objekt und siehst zu, wie er mit bedächtigen Fingern eine Nummer eintippt. „Wenn du irgendwelche Fragen hast oder in Schwierigkeiten steckst, kannst du mich anrufen oder eine Nachricht hinterlassen. Ich gehöre zur Schülervertretung und wäre - was unsere Schule anbelangt - möglicherweise der bessere Ansprechpartner als irgendeine... Mitschülerin." Er speichert die Daten auf deinem Handy ein und gibt es dir wieder zurück. Kühl schmiegt sich das schmale Gerät an deine Handfläche, als hätte er es nie gehalten.

Du nickst bedrückt. „Danke." „Keine Ursache." Seine Mundwinkel ziehen sich langsam in die Höhe, bis der Junge dich halb ironisch, halb spöttisch angrinst. „Ich esse übrigens kein Fleisch."

|=| Hallo! Ich hoffe, dir hat dieses Kapitel gefallen. Bevor du weiterliest, wäre ich sehr dankbar für Kritik! 🤧 Bis zum nächsten Kapitel!

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