10 - Nacht

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Tick.

Tack.

Der Sekundenzeiger der Wanduhr ist das Einzige, was sich in dem dunklen Zimmer bewegt. Ihre nie ruhenden Zahnräder sind so fleißig, so rastlos. Unersättlich drehen sie sich und zermalmen die Zeit zwischen ihren winzigen kleinen Zähnen.

Wie eine leblose Puppe kauert er auf dem blanken Fußboden. Seine Beine sind angewinkelt, die Arme verschränkt. Die unbequeme Haltung sticht in seiner Wirbelsäule, aber das kümmert ihn wenig. Seine Aufmerksamkeit gilt der Uhr.

Die Nächte sind am Schlimmsten. Die bedrohliche Leere gewinnt an Überhand, sobald er das Licht ausschaltet. Sie schleicht sich in seinen Verstand, verhöhnt ihn, lacht ihn aus. Erinnert ihn daran, dass ein weiterer erfolgloser Tag vergangen ist. Dass er ein weiteres Mal versagt hat.

Müde seufzend schließt er seine Augen und ruft sich Bilder von dir ins Gedächtnis. Wie du während des Mittagessens bei deinen neuen Freunden sitzt und verhalten lachst. Wie du interessiert vor der Auslage des Cafés stehst und die Auswahl studierst. Mit wachsender Ungeduld fleht er die Zeit an, sie möge schneller vergehen. Er hasst es, untätig hier herumsitzen zu müssen. Er möchte dich so schnell wie möglich wiedersehen. Möchte verstohlene Blicke auf dein Lächeln erhaschen, das atemberaubende Flattern in seiner Brust genießen, wenn du zufällig in seine Richtung siehst.

Aber du lächelst nicht für ihn.

Aber du siehst ihn nicht.

Nachdenklich starrt er auf das helle Zifferblatt und lässt seine Gedanken weiter treiben.
Er war zu ungeduldig. Zu überstürzt. Sein Verhalten hat dir Angst gemacht, dich verschreckt. Und nun muss er den Preis dafür bezahlen. Die bodenlose Enttäuschung, als du bei eurem Aufeinandertreffen nicht reagiert hast wie erhofft, reißt ihn jedes Mal zurück in den Abgrund, sobald er an deinen arglosen, unbeeindruckten Gesichtsausdruck denkt. Er ist so aufgeregt gewesen, so unsicher. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er endlich vor dir stand, so laut, dass er befürchtete, du könntest es hören.

Und du?

Nichts. Da war rein gar nichts in deinem Blick. Die Liebe, die er sich so oft in deinen funkelnden Pupillen vorgestellt hat, dieselbe Zuneigung, die er für dich empfindet, blieb aus. Natürlich - Wieso solltest du dich für ihn interessieren? Du wärst nicht du, nicht der Engel, in den er sich so verliebt hat, wenn du dem erstbesten Typen deine Zunge in den Hals stecken würdest wie diese ganzen Schlampen auf der Schule. Und für dich ist er ein erstbester Typ, nichts weiter.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Er handelte unbedacht und ohne nachzudenken. Einiges musste - konnte er nachträglich wieder korrigieren. Aber andere Dinge können nicht mehr zurückgenommen werden. Seine Finger schließen sich fester um das klobige alte Handy, das er benutzt, um dir zu schreiben. Dessen schusseliger, alter Besitzer hat wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, dass es ihm fehlt. Für den familienlosen Greis war dieses Gerät nicht wichtig. Aber für ihn ist das die einzige greifbare Verbindung zu dir.

So gerne würde er dir eine weitere Nachricht schicken, egal, ob nun tiefste Nacht herrscht, oder ob du etwas mit den Worten anfangen kannst oder nicht. Er möchte sich dir nahe fühlen. Sich wenigstens vorstellen, wie du ihm zurückschreibst, als wäre er dein fester Freund.

Seufzend rauft er sich durch seine Haare. Du hast heute Nacht daran gedacht, abzuschließen, sehr zu seinem Bedauern, als er vorhin vor deiner Tür stand und probeweise auf die Klinke drückte. Nein, das ist gut so. Er möchte nicht, dass jeder beliebige Mann in dein Zimmer spazieren kann, während du schläfst. Auch, wenn es bedeutet, dass ihm der Zutritt ebenfalls verwehrt wird. Er muss aufpassen, wie diese Uhr vor ihm sein. Unermüdlich und geduldig.

Schritt für Schritt, Stück für Stück.

Nichtsdestotrotz bedrückt ihn der Gedanke daran, dass du ihn nicht wahrzunehmen scheinst. Und nun läuft er Gefahr, dich an deine neuen Freunde zu verlieren. Dein bescheidenes Wesen erkennt nicht, wie sehr die Leute dich mögen, aber das ist nur noch eine Frage der Zeit. Besonders jetzt, nachdem dieses rothaarige Teufelsweib dich der ganzen Schule vorgestellt hat. Noch immer kann er die aufdringlichen Blicke der Schüler auf dir spüren. Sie sind viel zu direkt. Viel zu verdorben. Ein gereiztes Knurren verlässt seine Kehle, während er in seine übliche nächtliche Routine verfällt: Planen.

Nach dem misslungenen ersten Versuch musste er improvisieren, aber zum Glück verlief alles reibungslos. Er hat einen bleibenden Eindruck bei dir hinterlassen.

Als nächstes sind diese drei lächerlichen Clownsfiguren an der Reihe. Und danach er. Mit wachsender Abneigung denkt er daran, wie dieser Junge dir andauernd über den Weg läuft und dir wirre Dinge einredet.
Wegen ihm hast du die Blume verschmäht. Wegen ihm hast du das Geschenk ignoriert, das er dir auf die Fußmatte gelegt hat.

Er hat sie aufgehoben. Obwohl sie für dich bestimmt war. Und dafür wird er büßen.
Langsam legt er seinen Kopf zurück und lacht, leise zunächst, bis es immer ausgelassener wird.

Tick.

Tack.

Schritt für Schritt. Stück für Stück.

|=| Yo! Das hier war zwar ein relativ kurzes Kapitel, aber ich hoffe, es war trotzdem unterhaltsam. 🤧
Wie findet ihr eigentlich diese Perspektive? Kommt sie halbwegs authentisch rüber? Und wenn nicht, was würdet ihr euch von der Person erhoffen? Hinterlasst mir doch einige nörgelnde Kommentare! \•^•/

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