Das Klingeln des Telefons schrillte mehrfach durch das Zimmer, als Jule die Hand auf ihrem nackten Rücken spürte. Sie versuchte ihre Augen zu öffnen, die sich geschwollen und verklebt anfühlten, als sie sich durchs Gesicht rieb. Automatisch bewegte sich ihr Körper nach vorn, um der Berührung zu entweichen, ihre Hand suchte nach dem Telefon und warf dabei schimmelige Joghurtbecher, Kaffeetassen und die Flasche Wodka vom Nachttisch. Ihr Schädel schmerzte und pochte wie wild. Endlich fand Jule das Telefon und schaltete es aus. Wieder spürte sie die Hand.
„Hey...Guten Morgen, Süße." Jule wurde auf der Stelle schlecht. Schwer lag kalter Rauch und der Geruch von alkoholisiertem Sex in der Luft. „Ich bin nicht deine Süße. Und wer auch immer DU bist – wäre cool wenn du jetzt gehst." Sie wandte sich nicht mal um, sondern setzte sich auf ihrer Seite des Bettes an den Rand, fischte mit dem Fuß nach einem der mehreren Shirts, die auf dem Boden verstreut lagen. Sie zog es mehr schlecht als recht über ihren schlanken Körper und rubbelte sich mit beiden Händen durch ihre wirren, schwarzen Locken.
„Aber...ich wollte doch nur..." versuchte der junge Typ es erneut. „Was du willst, interessiert hier niemanden. Zieh dich an, und wenn möglich, sieh mich dabei nicht an, und vor allem: Sprich nicht mit mir – ich wäre dir sehr verbunden." Jule bückte sich und zog eine Zigarette aus der fast leeren Packung, zündete sie an und inhalierte tief. Der Rauch brannte in ihrer Lunge und gab ihr das Gefühl, wieder bei vor 5 Stunden zu sein. Nur leider nüchterner. „Was? Entspann dich mal bitte, wir haben gestern noch gevögelt!" Der Typ klang wütend. „Ja, genau. Gestern. Und welchen Teil von ‚Sprich nicht mit mir' muss ich dir erneut erklären?" Jule stieg schwergängig im Sitzen in ihre Jogginghose, während sie die Kippe im Mundwinkel jonglierte. Der Typ stand endlich auf und sammelte leise fluchend seine Klamotten ein, zog sich an. „Du bist ne richtige Schlampe, Jule."
Wütend verließ er das Zimmer und auch die Wohnung, natürlich nicht ohne mit der Tür zu knallen. Jule zuckte nicht mal zusammen. Sie zog ein letztes Mal an der Zigarette und warf die Kippe in ein Senfglas, stand langsam auf und hielt sich stöhnend den Kopf. Sie stolperte in die Küche, öffnete das Einmachglas mit den Tabletten und überlegte, welche davon hoffentlich ein Aspirin sei. Sie entschied sich für eine weiße, rundliche Tablette und hielt den Mund unter den Wasserhahn.
Jule wischte sich mit dem Handrücken den Mund trocken und setzte Kaffee auf. Seufzend sah sie in den Kühlschrank: Vier Joghurtbecher, drei davon abgelaufen. Ein Glas Gurken, fünf Flaschen Bier, eine Flasche Tonic, eine schwarze Banane. Sie nahm den Joghurt, wandte sich um und sah ihr Spiegelbild im Küchenfenster, blieb in der Bewegung stehen. Die grünen Augen sahen sie leer und stumpf an, die unbändigen Locken standen in alle Richtungen ab. Ihr Shirt trug sie falsch herum und könnte, genau wie die Jogginghose, eine Wäsche dringend vertragen. Spöttisch sah sie ihr Spiegelbild an. „Na dann.... Happy Birthday, Jule."
In Ermangelung eines sauberen Löffels trank Jule den Joghurt mehr, als dass sie ihn aß, als die schrille Klingel sie aus ihren Gedanken riss. Widerwillig schlurfte sie zur Tür, um sie einen Spalt zu öffnen. Vor ihr stand ein Postbote, der von seinen Briefen zu ihr aufsah und lächelte. „Ein Einschreiben für sie!" strahlte er sie an, und Jule hätte ihm gerne den Rest ihres Joghurts ins Gesicht gespuckt für sein dämliches Dauergrinsen. Harsch nahm sie ihm den Brief aus der Hand und unterschrieb auf dem Empfangsformular, um wortlos die Tür im Gehen mit der Hacke zuzuschlagen. Kurz sah sie auf den Absender – irgendeine Anwaltskanzlei. Offenbar machte der Vermieter ernst. Drei Monatsmieten stand Jule bei ihm in der Kreide, zudem gab es mehrere Beschwerden, hauptsächlich wegen Lautstärke. Jule ging davon aus, dass dies die Kündigung ist, und schenkte dem Brief keine weitere Beachtung.
Stunden später hatte Jule zumindest eine Maschine Wäsche angestellt und sich geduscht, als es erneut klingelte. Wären es nicht drei kurze Klingelzeichen hintereinander gewesen – sie hätte nicht geöffnet. Jule betätigte den Türöffner und wartete gähnend an der Wohnungstür, als Hans die Treppen hochschlich. Hans hieß eigentlich Christian, war Mitte zwanzig und so ziemlich fertig mit sich und der Welt um ihn herum. Warum ihn alle Hans nannten, wusste keiner so genau, er wohl am allerwenigsten. Sie hatte ihn nie danach gefragt, weil es sie auch nicht wirklich interessierte. „Hey Jule." Wortlos gewährte sie ihm Einlass, und Hans ging in das angrenzende Wohn/Schlafzimmer. „Mann, wie sieht es hier denn aus..." Hans blickte sich um und schüttelte den Kopf. „Und ich dachte, ich bin ne Schlampe..." „Maul halten. Was willst du?" Jule warf sich genervt auf das kleine Sofa, welches wohl mal rot, mittlerweile jedoch eher ein Sammelsurium an nicht definierten Farben, Gerüchen und Ausscheidungen war. „Wie immer halt" stammelte Hans, trat dabei nervös von einem Fuß auf den Anderen. Hans rieb sich kurz und heftig die Stirn und sah Jule kurz an. „Hm... und dieses Mal bezahlst du auch?" Hans kramte in seiner Jeanstasche. „Klar... na klar. Hier..." Er hielt Jule einen Fünfziger hin. „Da fehlen 150." Jule starrte ihn an. Was für eine Wurst. Vielleicht deshalb „Hans". Hans Wurst hatte seit Monaten Schulden bei ihr. „Das...das kommt noch. Ich brauch jetzt aber Gras. Bitte." Abfällig blickte sie ihn an, raffte sich auf und ging zur Kommode. Sie zählte die Graspäckchen für 40 Euro ab und reichte sie Hans, der irritiert dreinsah. „Solange du deine Schulden nicht begleichst, gebe ich dir jeweils für'n Zehner weniger. Zieh Leine." Sie nahm den Fünfziger von ihm und steckte ihn in die Hosentasche. Hans sah aus, als wolle er kurz Einspruch erheben, entschied sich jedoch dagegen. „Oh...okay. Bis dann"; wandte er sich um und verließ die Wohnung. Jule wartete noch kurz, bis sie die Haustür ins Schloß fallen hörte, zog ihre schwarzen Boots und die Lederjacke an, packte jede Menge Gras ein und verließ ebenfalls die Wohnung.
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rich & broken
FanfictionJule Kaufmann, 30 Jahre, ist am Ende. Sie kifft und trinkt zu viel, ist notorisch pleite, steht kurz davor, aus der Wohnung zu fliegen und verdient sich ihren Lebensunterhalt als kleine Straßendealerin. So weit, so bescheiden - bis eines Tages ein f...