Verschlafen stand Jule am nächsten Morgen in der Küche und schaute sich ratlos um. Sie wollte so dringend einen Kaffee, fand jedoch keine Kaffeemaschine, geschweige denn Kaffee. Vorsichtig öffnete sie einige Schranktüren, wurde aber nicht fündig, als es an der Wohnungstür klopfte. Verwundert lief sie zur Tür. Noch immer kein Türspion, verdammt!, dachte sie, als sie selbige öffnete. „Einen wunderschönen guten Morgen, Ms. Kaufmann!!" rief ihr eine fröhliche Stimme entgegen, und Jule brauchte einen Moment, um die ältere Dame zu erkennen. „Ich bin es, Martha! Martha Wilson!" sprach sie, als könnte sie Gedanken lesen. Noch immer verwirrt blickte Jule Martha an. „Uuunnd....?!" fragte Jule. Nun sah Martha Wilson sehr überrascht aus. „Und? Was und? Ich arbeite hier, erinnern sie sich?" lachte sie unmissverständlich und kam wie selbstverständlich in die Wohnung. „So, also...ach, ich seh schon, du liebe Güte, das wird aber wirklich Zeit, dass ich hier bin, du liiieeebe Güte!!" quasselte Martha, während sie im Gehen in fast jeden Raum einen kurzen Blick warf, während Jule völlig verdattert hinter ihr her sah und langsam die Türe schloss. Sie sammelte sich und lief hinter Martha her. „Ähm... Entschuldigung, Ms Wilson, aber.. ich.. wusste nicht dass sie heute kommen, und..." „Und was? Dann hätten sie vorher aufgeräumt, Herzchen? Das ist nicht nötig - dafür bin ich ja da!" Breit strahlte sie Jule an, während sie ihre Jacke im Esszimmer ordentlich über einen der Stühle hing. Jule sah sie entschlossen an und spürte Entrüstung aufkommen. Entrüstung. Als sei sie plötzlich um Jahre gealtert. „Hören Sie, Ms. Wilson, ich habe sie nicht bestellt, und eigentlich brauche ich sie auch nicht." Das Lächeln von Martha Wilson wurde nur kurz unterbrochen. „Ms. Kaufmann, ich arbeite für sie. Und vielleicht brauchen sie mich nicht. Aber ich glaube, sie brauchen erst mal einen Kaffee. Könnte das möglich sein?" Ohne eine Antwort abzuwarten, lief Martha in die Küche, öffnete summend eine der vielen Schranktüren und holte einen Espressokocher und Kaffee hervor, bereitete den Kocher vor und stellte ihn auf den Gasherd. Interessiert verfolgte Jule die Handgriffe von Martha, und jeglicher Widerspruch schwand in dem Moment, als der frische Kaffeeduft den Raum erfüllte, und nur kurz darauf hielt Martha ihr die große Tasse Kaffee hin. „Es stört doch nicht, wenn ich mir auch erst mal einen Kaffee gönne? Mit ihrem Großvater habe ich auch immer erst einen Kaffee getrunken, bevor wir in den Tag starteten." Dankbar nahm Jule die Tasse entgegen. „Nun, da sie schon mal da sind, Ms Wilson." „Oh, nenn mich doch Martha, sonst fühle ich mich ja noch älter!" erwiderte sie entrüstet und lief entschlossen zurück ins Esszimmer. „Nur, wenn sie mich Jule nennen."
„Du kanntest ihn also nicht?" fragte Martha Jule, und man konnte nicht gerade sagen, dass sie Themen eher subtil in Gang brachte. Jule schüttelte den Kopf. „Nein... nein ich bin vor einigen Wochen ziemlich überrascht worden. Wie in einem schlechten Film." Jule schluckte. Noch immer hatte sie keinen blassen Schimmer, was sie eigentlich damit anstellen sollte. „Es ist wirklich bedauerlich, dass George dich nicht mehr erreichen konnte", schüttelte Martha traurig den Kopf. Jule blickte auf und legte die Stirn in Falten. „Er wollte mich erreichen?" „Ja aber natürlich!" rief Martha überrascht aus, „was denkst du denn? Als er von dir erfuhr, musste er das erst einmal sacken lassen. George haderte sehr lang, bis er sich dazu durchringen konnte, einen Brief zu schreiben. Der scheint wohl nicht angekommen zu sein. George verfasste sein Testament, kurz darauf verstarb er." Der leichte Schimmer in Marthas Augen verriet die aufkeimenden Tränen. Kurz schüttelte sie sich. „Tut mir leid Julia, ich habe nur so lange für George gearbeitet... er war wie ein großer Bruder, vielleicht, oder einfach... ein sehr guter Freund für mich." Sie schniefte in ihr Taschentuch, während Jule sie fassungslos anblickte. „Ein Brief?? Er hat mir einen Brief geschrieben?" „Ja, hat er! Sogar noch selbst, mit der Hand, obwohl er da schon bettlägerig war. Ich selbst habe den Brief noch zur Post gebracht, per Express sollte er zu dir geschickt werden. Wirklich schade, dass du ihn nie erhalten hast." Angestrengt dachte Jule nach und kramte in ihren Erinnerungen der letzten Monate. Dass sie Briefe nicht öffnete, als Verdrängungsmechanismus und aus Angst, was da wohl drin stehen könnte, war ihr bewusst. An einen amerikanischen Absender konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern - was jedoch bei ihrem Alkohol-und Graskonsum nicht ungewöhnlich war. Schlagartig wurde ihr klar, dass sie nicht ganz unschuldig war, was den Kontakt zu George betraf. Hätte sie den Brief gelesen - Jule hätte vielleicht noch die Möglichkeit gehabt, George persönlich kennen zu lernen. Er hätte vielleicht Fragen beantworten können, die ihr, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, so lang auf der Seele brannten. Tränen der Wut und Trauer kamen in ihr auf. Ruckartig verließ Jule den Tisch und lief in das hintere Schlafzimmer, wo sie knallend die Tür verschloss. „FUCK!" rief sie wutentbrannt und lief im Kreis wie ein Tiger im Käfig, schlug beide Hände über ihrem Kopf zusammen. Ein zaghaftes Klopfen an der Tür ließ sie kurz erstarren. Jule versuchte sich zu sammeln, atmete tief ein und aus, bevor sie Einlass gewährte. Martha blickte sie traurig und erschüttert an. „Es tut mir so leid... ich wollte keine Wunden schüren. Kann ich was für dich tun, Jule? Lass es mich bitte wissen." Versöhnlich lief sie einen Schritt auf Jule zu, welche jedoch kopfschüttelnd einen Schritt zurückwich. Enttäuscht senkte Martha den Kopf. „Na gut... ich... fange dann mal mit dem Haushalt an." Langsam wendete sie sich ab und lief den Flur herab zurück zur Küche, während Jule nervös an der Unterlippe kaute. „Martha! Warte... warte bitte." „Ja?" „Ich... habe keine sauberen Klamotten mehr. Und ich habe keine Ahnung, wo hier die Waschmaschine steht." Martha lachte laut auf. „Ach Darling. Bewohner in diesem Haus hier lassen waschen, sie waschen nicht selbst. Gib mir einfach deine Kleidung, und spätestens übermorgen ist sie frisch gewaschen wieder da!" Zweifelnd blickte Jule Martha an. „Aber das reicht nicht... ich habe einfach zu wenig eingepackt!" „Ach?!" erwiderte Martha erstaunt. „Na das sollte das geringste Problem sein."
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rich & broken
FanficJule Kaufmann, 30 Jahre, ist am Ende. Sie kifft und trinkt zu viel, ist notorisch pleite, steht kurz davor, aus der Wohnung zu fliegen und verdient sich ihren Lebensunterhalt als kleine Straßendealerin. So weit, so bescheiden - bis eines Tages ein f...