Teil 4

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Den Rest des Fluges verbrachten Beide schweigend. Maynard arbeitete noch am Laptop, Jule versuchte indes, ihre Angst vor der Landung zu verdrängen. Je näher der Zeitpunkt der Landung nahte, desto mehr verkrampfte sie. Jule spürte ihren Puls, Angstschweiß verteilte sich auf Stirn und Rücken. Das Gespräch mit Gregory ging ihr nicht aus dem Kopf, und Jule verschwand auf die Boardtoilette. Lange ließ sie kaltes Wasser auf ihr Gesicht laufen, kurz beruhigten sich ihre Nerven, bis der Pilot durch die Lautsprecher darum bat, die Plätze einzunehmen und sich auf die Landung auf dem JFK Airport vorzubereiten. Zurück am Platz gab es einen kurzen irritierten Blick seitens Maynard. Jule setzte sich schweigend, schnallte sich an und hielt sich rechts und links an den Armlehnen fest. Ihre Hände waren mittlerweile wieder schweißnass, die Knöchel verfärbten sich weiß, genau wie ihre Gesichtsfarbe. Der Sinkflug setzte ein, und das flaue Gefühl im Magen verstärkte sich zusehends. Maynard sah besorgt zu ihr und zog daraufhin die Verdeckung seines Fensters herab. „Ich konnte nicht ahnen, dass es so schlimm..." „Sei still. Sei einfach nur still." Jule schloß ihre Augen. „Rede mit mir. Das hilft wenigstens etwas. Du kannst so deinen Fokus verändern. Ich kann dir auch einen Schwank aus meiner Jugend erzählen...." Jule schüttelte mit dem Kopf. „Ich weiß nicht... ich weiß es nicht." „Also pass auf... wusstest du zum Beispiel, dass dein Unterarm genauso lang ist wie dein Fuß?" „Was???" Jule sah ihn an mit einer Mischung aus Ärger und Verwunderung. „Was denn?? Hast du nie Pretty Woman gesehen? Bildungsfernsehen?" „Äh...nein. Mit Sicherheit nicht. Und dass du so ne Schmonzette guckst, ist mir ein Rätsel." „Ich musste. Ich war Julias Anwalt bei den Vertragsverhandlungen. Sie hat ihren Hintern tatsächlich doublen lassen..." Maynard kicherte kurz. „Ich habe keinen Fernseher. Wir hatten einen als ich ein Kind war. Meine Mutter saß da ständig vor. Es widerte mich an, sie war dann so stumpf, und ich war komplett abgemeldet... als der kaputt ging, konnte sie sich keinen Neuen leisten..." Kurz blickte sie ihn an. „...naja. Auf jeden Fall habe ich mir daraufhin nie einen geholt, und ich vermisse es auch nicht." „Achso! Ja... das ist Fluch und Segen zugleich denke ich. Aber Bücher... hast du ein Lieblingsbuch?" Das Flugzeug senkte sich ein großes Stück herab, die Geräuschkulisse veränderte sich kurzzeitig. „Ist okay... es wird nicht mehr lang dauern." Maynards Stimme klang einerseits beruhigend. Andererseits machte er Jule unfassbar aggressiv. Alles war zu nah, zu nah und zu intim. „Sag mal... deine Locken... ist das schwer zu kämmen?" „HALT DIE FRESSE!" schrie sie ihn an. Gregory sah sie erschrocken an. „Okay.... Okay." Kurze Zeit später setzte der Flieger sanft auf dem Boden auf.

Jule lief neben Gregory her und versuchte, nicht die Orientierung zu verlieren, was eigentlich Blödsinn war – sie hatte nämlich keine. Gregory hingegen bewegte sich selbstsicher durch den riesigen Flughafen, als sei es sein Wohnzimmer. Zwischendurch versicherte er sich durch kurze Blicke, ob Jule noch bei ihm war, bis sie zur Gepäckausgabe ankamen. Jule sah länger auf das sich langsam bewegende Rollband und die verschiedenen Koffer. „Was machen wir hier?" Maynard sah erstaunt zu ihr. „Deinen Koffer holen?" „Welcher Koffer?" „Du hast kein Gepäck aufgegeben beim Check in?" „Nö." Jule drehte sich kurz und deutete auf ihren Rucksack. „Du willst wirklich nicht lange bleiben, hm?" „War nicht mein Plan... was soll ich auch hier?" Maynard seufzte kurz. „Weißt du, jemand hat mal gesagt, es gäbe zwei Dinge, die man nie vergisst – den ersten Kuss, und den ersten Tag in New York. Vielleicht gilt das ja auch für dich... aber ich kann verstehen, dass du so denkst. Noch vor 42 Stunden kannten wir uns ja nicht mal." Er drehte sich weg und lief Richtung Ausgang, irritiert folgte Jule ihm. „Was ist denn mit deinem Gepäck??" Maynard deutete wortlos auf seinen Trolley.

Am Ausgang lief Maynard einem Herrn entgegen, der bereits auf sie zu warten schien. „Richard! Schön, dass du da bist!" begrüßte er ihn auf Englisch. „Darf ich dir meine Klientin vorstellen? Das ist Jule Kaufmann. Vermutlich wirst du sie noch häufiger sehen und ihr vielleicht auch ein bisschen die Stadt zeigen – vorausgesetzt, sie möchte das. Jule, das ist Richard Smith, mein Fahrer, und gern auch dein Fahrer, falls du Bedarf hast." Richard grüßte Gregory, reichte dann Jule die Hand. Freundliche blaue Augen blickten Jule aus einem sympathischen Gesicht an, das vielleicht um die 50 war. Richard trug einen schwarzen Business Anzug und ein weißes Hemd, sein blondes Haar war kurz und gepflegt. „Willkommen in New York, Miss Kaufmann. Es wird ihnen sicherlich gefallen. Darf ich ihren Rucksack abnehmen?" „Hallo, ähm... nein, das geht schon. Danke." Jule brauchte einen Moment, um auf die englische Sprache umzuschalten. Richard lächelte. „Na gut. Dann wollen wir mal..." Richard betätigte die Fernbedienung eines Autoschlüssels, und erst jetzt bemerkte Jule die schwarze Mercedes S-Klasse, die am Fahrbahnrand parkte.

rich & brokenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt