Teil 17

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Stumm sah Jule auf den Brief, die Schrift verschwamm langsam vor ihren Augen. Sie versuchte zu fassen, was sie soeben las, nahm jedoch nur Leere wahr, fühlte sich wie im Film.

Nachdem Martin die Wohnung verlassen hatte, öffnete sie den Brief, ohne noch groß darüber nachzudenken. Vorsichtig, um bloß keine Risse zu verursachen, öffnete sie langsam den Umschlag. Er war innen floral bedruckt, es fühlte sich seidig an, das Briefpapier war schwer und hatte ein Wasserzeichen inmitten des Blattes. „GLC" stand dort in geschwungenen Lettern, wenn man ihn gegen das Licht hielt. Es war nicht reinweiß, eher dunkler, jedoch nicht so wie billiges Recyclingpapier, eher ins bräunliche gehend. Jule betrachtete dies alles, bevor sie mit dem Lesen begann, als wolle sie den Moment noch hinauszögern. Nun saß sie also dort, atmete schwer und versuchte, die immense Menge an Informationen zu verarbeiten, wohlwissend, dass dies nicht in wenigen Minuten funktionieren würde. Behutsam faltete sie den Brief wieder und legte ihn in den Umschlag zurück. Für Jule waren nun zwar einige Fragen geklärt – gleichzeitig eröffneten sich hunderte neue Fragen, die auf sie einprasselten. Als sie als kleines Kind ihre Mutter fragte, ob sie denn auch Großeltern habe, antwortete diese nur knapp, dass sie schon tot seien. Weitere Gespräche wiegelte sie ab, sodass Jule das Thema für sich irgendwann vergrub. Jule wusste nur, dass ihre Mutter mal verheiratet war, daher auch der Nachname, aber an den Mann konnte sie sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Die Ehe ging zu Bruch, noch bevor Jule laufen lernte, und sie wusste nur, dass er nicht ihr Erzeuger war. Sie traute sich nicht mal mehr in Gedanken, sich selbst Fragen nach ihrem Vater zu stellen, das war fast obsolet – auch hier stellte Jules Mutter die Konversation ein, sobald es auch nur in diese Richtung ging. Je älter Jule wurde, umso mehr drängte sich damals die Frage danach auf, und umso deutlicher machte Maria Jule damals klar, dass es darüber nichts zu reden gäbe. „Es war eine Affäre, er verschwand, ich weiß nicht mal mehr, wie er hieß" sagte Maria einmal, als sie mal wieder volltrunken im Wohnzimmer saß, und Jule musste sich wohl oder übel damit zufrieden geben. Abgesehen davon wurde ihr wieder einmal bewusst, dass sie selbst die Chance verpasst hatte, ihren Großvater kennenlernen zu können, wenn auch nur kurz. Und die bisherige Haltung, nämlich, dass es für sie sowieso nichts verändert hätte, schwand allmählich. Stattdessen spürte Jule große Trauer aufkommen, das Bedürfnis, ihn in den Arm nehmen zu wollen, oder einfach mit ihm über Gott und die Welt zu reden.

Seufzend rieb Jule sich mit beiden Händen durchs Gesicht, und als sie sie wieder sinken ließ und sich in ihrem Zimmer umsah, kam es ihr fast so vor, als wäre das dort sichtbare Chaos nur ein Spiegel ihres Inneren. Sie wollte das alles nicht mehr. Es kotzte sie an.

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