Teil 49

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Nervös stand Jule vor dem riesigen verspiegelten Wolkenkratzer und blickte in den Himmel, während eilige New Yorker an diesem geschäftigen Montag Morgen an ihr vorbei hetzten. Pepper saß geduldig neben ihr und fragte sich vermutlich, was das Frauchen hier veranstaltete, während Jule versuchte, das unangenehme flaue Gefühl im Magen zu verdrängen. Sie richtete ihren Blick gen Eingang und holte tief Luft. „Na denn... auf in den Kampf!" Sie lief die wenigen Schritte zum Eingang und öffnete die schwere Glastür. Das riesige Foyer des Gebäudes war hell und modern gestaltet, in der Mitte stand ein großer Empfangsbereich mit drei Mitarbeitern. An der Wand über der Empfangstheke stand, in großen, silbernen Buchstaben, „WRIGHT. SAILORS. MAYNARD." „Guten Morgen, kann ich behilflich sein?" Die männliche Stimme riß Jule aus ihren Gedanken, und der Mann neben ihr war offensichtlich einer der Security Mitarbeiter. „Ich möchte bitte zu Gregory Maynard." Der freundliche Herr deutete mit einer Handbewegung zur Theke und begleitete Jule dorthin, „haben Sie einen Termin?" „Nein... nein, also nicht direkt, ich ähm... ich bin seine Tochter." Mittlerweile waren sie am Empfang angelangt, und sowohl der dortige Mitarbeiter, als auch der Security sahen sie an mit einer Mischung aus Verwirrung und Mißtrauen. „Sie... sie sind bitte was?" „Seine Tochter. Leiblich, unehelich, jetzt neu im Sortiment. Dürfte ich bitte zu ihm?" Die beiden Männer wechselten kurz vielsagende Blicke, bevor der Mann hinter der Theke zum Hörer griff, „wie ist der Name?" „Jule." Der Mann sah sie fragend an, und Jule seufzte, „Julia. Eleonore. Kaufmann." Der Empfangsmitarbeiter tippte auf eine Nummer des Telefons und wartete auf Antwort, die zügig kam. „Guten Morgen, hier ist der Empfang, ist Mister Maynard aktuell im Hause? Hier steht eine Dame, die behauptet, seine Tochter zu sein. Julia Eleonore Kaufmann... Ja, ich warte..." Die Sekunden verstrichen, während der Mann sie unverwandt musterte, während der Security mittlerweile entschieden hatte, mit Pepper Freundschaft zu schließen. Pepper lag auf dem Rücken und ließ sich die Krauleinheiten des Mannes gefallen, der halb auf dem Boden saß. „Ja? Ja, vielen Dank, ich schicke sie hoch, ja? Vielen Dank." Er legte den Hörer auf und deutete nach rechts zu den Aufzügen. „20. Stock." „Ja, ich weiß. Ich war schon einmal hier." Sie konnte sich den patzigen Unterton nicht verkneifen, während sie zu den Aufzügen lief und die bohrenden Blicke der Männer deutlich spürte.

Der Lift ließ sich Zeit, um nach oben zu gelangen, zwischendurch hielt er auf mehreren Stockwerken, um weitere Fahrgäste einzusammeln, und mit jedem Mal wuchs Jules Ungeduld und Nervosität. Heute morgen beschloss sie spontan, Gregory einen Besuch abzustatten, ohne eigentlich genau zu wissen, was sie sagen wollte, sie wusste nur, dass dieses Treffen unvermeidlich war. Jimmy schien erleichtert, dass sie diesen Entschluss gefasst hatte. Jule glaubte, dass er einfach harmoniesüchtig war und wollte, dass sie sich mit ihrem Vater aussöhnte oder zumindest eine Einigung traf, die für alle Seiten einvernehmlich war. Was auch immer jetzt geschehen mochte, Jule war zumindest stolz darauf, dass sie selbst die Sache in die Hand nahm. Dieses Mal war das „Ping" des Liftes das für den 20. Stock, und Jule trat langsam heraus, blieb zunächst unschlüssig stehen. Irgendwie hatte sie erwartet, dass Gregory sie zumindest in Empfang nahm, so wie damals, als sie zur Testamentsverlesung hier war. Sie lief einige Schritte in den Flur, es war überraschend still. Durch die verglasten Bürotüren konnte sie sehen, dass die meisten Büros leer waren, also lief sie weiter, bis sich am anderen Ende des Flures eine Tür öffnete. Kurz vernahm sie mehrere Stimmen, bis Gregory aus dem Raum heraustrat und die Tür wieder verschloss. Still standen sie sich gegenüber, vielleicht 10 Meter voneinander entfernt, und fanden sich wieder in dieser seltsamen Situation, die entstand, wenn zwei Menschen zur Begrüßung aufeinander zuliefen, aber nicht genau wussten, was sie bis dahin eigentlich machen sollten, weil die Beziehung zwischen den beiden nicht geklärt war. Freundinnen würden sich zuwinken und lachen, alte Bekannte sich vielleicht in die Arme fallen, Geschäftspartner würden sich freundlich-professionell anlächeln, bis sie einander die Hand reichen, zerstrittene Menschen würden einen Ausweg suchen oder sich einfach nicht beachten, während sie einander vorbei laufen, der Lehrer fragt, ob Hausaufgaben gemacht wurden, die Mutter fragt, ob man genug gegessen hätte - aber Jule hatte keine Idee, also blickte sie auf Pepper, der schwanzwedelnd auf Gregory zulief, und sie war ein bisschen neidisch, denn er konnte wenigstens immer wedeln, wenigstens das. „Jule!" Nun standen sie sich also gegenüber, Anwalt und Klientin. Vater und Tochter, so absurd es klingen mochte. „Hallo Gregory." Sie sah ihm ins Gesicht und suchte unbewusst nach Ähnlichkeiten. „Hast du... eine wichtige Sitzung?" „Nicht so wichtig.... Sie kommen auch ohne mich zurecht." Sie ahnte, dass es nicht ganz der Wahrheit entsprach, entschied sich aber gegen den Vorschlag, an einem anderen Tag zurück zu kommen. Sie wollte keinen Termin mit ihrem Vater vereinbaren. „Na komm, wie gehen in mein Büro." Sie folgte ihm in den großen Raum, welcher überraschend gemütlich eingerichtet war. Dunkle Holzmöbel und die Sitzecke mit Clubsesseln aus dunkelbraunem Leder verliehen dem Raum, zusammen mit dem massiven Schreibtisch, eine britische Note. Ihr Blick fiel auf das Wappen rechts an der Wand. Auf alten Schiffsbohlen war ein goldener Anker montiert, umschlungen von einem echten, dicken Tau. Sie blickte auf den Ring an ihrer Hand, als sie die Tränen aufkeimen spürte, die sie schnell verschluckte. „Setz dich," Gregory deutete auf den Sessel neben Jule, während er sich selbst ebenfalls platzierte. „Willst du etwas trinken?" Jule nahm Platz, sie versank förmlich in dem schweren Sessel mit den goldfarbenen Nieten, während Pepper sich neugierig im Raum umsah, und schüttelte mit dem Kopf. Selbiger schien auf einmal leer zu sein, sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte und dachte krampfhaft nach. Sie fühlte sich dumm und lächerlich, während Gregory sie erwartungsvoll ansah, bis er schließlich das Wort ergriff. „Ich habe Bilder von dir gesehen, und ein Video. Von dir und Jimmy." Bei dem Namen musste sie kurz lächeln, „ja... sie haben uns Samstag gefilmt und gestern vorm Gramercy empfangen, wenn man das so sagen kann. Unschön. Aber wir hoffen, dass es schnell nachlässt." Gregory lächelte ebenfalls, „wir? Also, dann stimmt es tatsächlich, was da steht? Ihr Beide...?!" Sie nickte, „ja, es stimmt. Jimmy und ich sind... wir sind ein Paar." Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoß. „Wow! Das ist doch.. das ist doch wunderbar, Jule!" Gregory beugte sich vor und berührte Jule kurz an der Schulter, „ich freue mich für euch. Wirklich." Sie nickte kurz zustimmend, und es entstand eine unangenehme Stille. „Oh, ich hab was für deinen Hund!" Gregory stand auf und kramte in einer der Schubladen, bis er eine Verpackung mit Hundekeksen hervorholte, die Pepper sofort auf den Plan riefen. „Darf ich...?" Fragend hielt er die Packung Richtung Jule. „Klar. Aber nicht so viele." Jule sah zu, wie er dem Hund zwei Kekse gab, begleitet von wohlwollenden Äußerungen, „Ja feiner Hund! Ein feiner Hund bist du!" Gregory legte die Kekse zurück in die Schublade und setzte sich erneut. „Ich habe häufiger mal Klienten mit Hunden, da ist es gut, wenn man sowas da hat." „Du warst aber sonst kein Fan von ihm," Jule deutete auf den Hund, der kauend neben dem Schreibtisch lag. Gregory seufzte. Der berühmte rosa Elefant im Raum, bisher gekonnt ignoriert, wurde nun Beiden zu groß. „Jule... ich vermute, dass du mir nie verzeihen kannst, dass ich deine Mutter damals nicht weiter gesucht habe. Wenngleich ich es ja versucht habe. Deine Mutter war wie vom Erdboden verschluckt. Ich habe gewartet, sie gesucht, so wie deine Großeltern auch... aber es war zwecklos. Wir haben sie nie gefunden." Jule kaute auf ihrer Unterlippe und schwieg, sah angestrengt auf den Boden. „Ich habe sie wirklich geliebt. Aber sie ließ mir keine Chance, besser gesagt: uns, auch dein Großvater konnte sie nicht finden." „Wieso habt ihr eure Beziehung verheimlicht?" Gregory seufzte, „das war damals nicht so einfach. Ich arbeitete damals in der Reederei von George, war Student. Ich wusste, dass das Verhältnis zwischen deiner Mutter und George zerrüttet war, nachdem ihr Bruder Noan Suizid beging. Zu diesem Zeitpunkt waren wir erst wenige Monate ein Paar. Vermutlich hätte es die ganze Situation nur noch verkompliziert. Sie wollte es nicht, und das habe ich respektiert. Ich dachte, sie hat es zu Hause schon schwer genug." Sie blickte Gregory an. „Ich habe Maria gehasst, weisst du das?" Sie flüsterte es fast, und sein Blick spiegelte Entsetzen wieder. „Ich.... Ich weiß, dass du es vermutlich nicht immer leicht mit ihr hattest.." „Nette Formulierung." Die Wut war wieder da, füllte Jules Magengrube aus und türmte sich langsam auf, Jule versuchte sich zu bremsen. Wie sollte sie bei diesem Thema auch sachlich bleiben? Ihr Telefon in der Hosentasche vibrierte, und normalerweise würde sie dem keine Beachtung schenken. Jetzt nahm sie es als willkommene Ablenkung aus der Tasche und sah eine Nachricht von Jimmy: ‚Ich hoffe es geht dir gut. Bitte bringe niemanden um. Komm danach zum Sender! Jimmy' Neben seinem Namen hatte er ein Herz Emoji gesetzt, und was Jule sonst als kitschigen Scheiß abgetan hätte, rettete sie gerade ungemein. Sie holte tief Luft, als sie das Smartphone wieder in die Tasche steckte und wieder zu Gregory sah. „Ich habe mittlerweile zumindest etwas begriffen, Greg. Du trägst keine Schuld am Verhalten meiner Mutter. Sie hat die Entscheidung getroffen und das Leben im Wohlstand verlassen, wenngleich ihr Leben in Armut sie offenbar nicht glücklicher machte. Für sie gab es wohl keinen Mittelweg.... Ich konnte nicht wählen, ich lebte das Leben, welches sie mir bot, und wir wissen Beide, das war beschissen. Und selbst, als ich die Chancen hatte - ich ergriff sie nicht. Ich konnte nicht. Ich war davon überzeugt, Chancen nicht verdient zu haben, denn das wurde mir vorgelebt. Dass mein Leben vorbestimmt war; die kleine Dealerin, die irgendwann auf der Straße landen wird, oder im Knast, daran glaubte ich. Und dann kamst du. Verstehe mich nicht falsch, du warst nicht der Heiland, der mein Leben rettete, das kannst du vergessen, ich hatte eh schon abgeschlossen, irgendwie. Aber da war auf einmal wieder eine Chance. Jetzt habe ich also dieses komfortable Leben im Reichtum, vor dem meine Mutter geflohen ist, und dazu hatte ich das ungemeine Glück, ihre, und auch meine Überzeugung widerlegen zu können, dass Geld nur Unglück bringt und Menschen in emotionslose Arschlöcher verwandelt...." Kurz musste Jule lachen, „schon komisch... ich war auch ohne Geld ein emotionsloses Arschloch... Wie auch immer: Ich scheiße auf das Geld, solange mir die Menschen erhalten bleiben, die mir hier begegnet sind. Und dafür bin ich dankbar." Pepper stupste an ihre Hand und verlangte Aufmerksamkeit, und kurz pausierte Jule, um ihn am Kopf zu kraulen. „Verurteilen.... Das bringt nichts, habe ich gemerkt. Du hast mir sehr geholfen, seitdem ich hier bin. Aber es gibt noch viele Fragen. Und erwarte nicht von mir, dass ich dich als Vater wahrnehme." Gregory blickte sie lang an. „Das würde ich nie verlangen." „Gut. Können wir dann jetzt über Geschäftliches reden?" Versöhnlich lächelte sie Greg an, der es erwiderte. „Ja natürlich!" Sie berichtete Gregory von ihren Investitionsideen, zwei Stunden saßen sie beisammen, schmiedeten Pläne, und Gregory zeigte sich angetan von ihren Vorschlägen. Als sie sich verabschiedeten und Jule Richtung Rockefeller Center lief, fühlte sie sich, als hätte sie einen halben Marathon hinter sich; erschöpft, aber voller Adrenalin, eine riesige Last schien von ihr gefallen zu sein, sie fühlte sich high, aber so klar wie lange nicht.

Im sechsten Stock des Rockefeller Centers herrschte wie immer geschäftiges Treiben, als Jule durch den Flur lief. Mittlerweile wurde sie von Einigen begrüßt, und Pepper fand schnell Anschluß bei einem der Bürohunde. „Jule!! Wie schön, dass du noch gekommen bist!" Jimmy umarmte sie stürmisch und küsste sie innig. „Wie lief es? Müssen wir dir ein Alibi stellen...?" Jule lachte, „nein, alle leben noch. Ich erzähle es dir später in Ruhe." „Wie schön! Gleich ist schon Aufnahme, magst du dich dazu gesellen? Du kannst am Rand sitzen." Jule willigte ein, gespannt auf das, was da kommen mag. Sie traute sich nicht zu fragen, ob er wirklich etwas geplant hatte. Jimmy nahm ihre Hand und begleitete sie zum Nebeneingang des Showsaals. „In fünf Minuten geht es los!" Überschwänglich küsste er sie erneut, bevor er durch den Backstage Bereich Richtung Vorhang verschwand.

Jule setzte sich an den Rand, und kurz darauf spielten die Roots bereits einen Song, um die Zuschauer in Stimmung zu bringen, bis sich schließlich der blaue Vorhang öffnete und Jimmy unter Jubel und Applaus hervortrat und mit dem Monolog begann. Einige der Scherze verstand Jule nicht, dafür fehlten ihr wohl die Hintergrundinfos zu irgendwelchen Prominenten, der Rest war aber amüsant. Jule fragte sich schon, ob Jimmy es sich vielleicht doch anders überlegt hatte, denn der Monolog wurde beendet und die erste Werbepause trat ein. Jule war irritiert, ließ sich aber nichts anmerken, als Jimmy ihr kurz zuwinkte. Nach der Pause saß er am Schreibtisch und erzählte von den Gästen, die er heute und im Laufe der Woche zu Gast hatte, bis er schließlich ins Publikum blickte. „Leute, manchmal erfordern ungewöhnliche Situationen ungewöhnliche Maßnahmen, außerdem hat sich da ein bisschen was angesammelt in der Hiatus Woche.... Ich habe meine Mails bereits gecheckt und würde gern kurz ein paar Thank you Notes schreiben, ist das okay für euch?" Unter großem Applaus und Zurufen holte Jimmy kleine Briefumschläge und Papier hervor, „James, kann ich bitte etwas musikalische Untermalung erhalten?" Jule sah gespannt zu, wie James auf dem Klavier eine Melodie anstimmte, während Jimmy den Stift ansetzte. „Thank you, Verkehr in New York, dass du mir zeigst: Gelb ist weiterhin die Farbe dieser Saison. Und der folgenden. Und der darauf folgenden." Das Publikum lachte, und er holte ein neues Stück Papier hervor, „Thank you, Stein- Statuen in nahezu jedem Park, dass ihr mir zeigt: So schlecht sehe ich gar nicht aus!" Das Publikum fand den wohl besser und applaudierte. „Kommen wir zur letzten Notiz..." James setzte an, und im Hintergrund erschien ein Selfie von Jimmy und Jule, welches sie am Samstag im Pub geschossen hatten. Jules Herz setzte förmlich aus. „Thank you, Jule. Für deinen schrägen Humor. Für die Art, wie du auf die Welt blickst. Dafür, dass du mir zeigst, was Liebe bedeutet. Dafür, mich auf den Teppich zu bringen - und dass du Stein-Statuen mindestens so gruselig findest wie ich. Ich liebe dich!" Im Saal hätte man eine Stecknadel fallen hören können, und Jimmy blickte erwartungsvoll zu ihr, als frenetischer Applaus hereinbrach. „Ich liebe dich auch" formte Jule mit ihren Lippen, und noch nie fiel es ihr leichter, diesen Satz auszusprechen. 

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