„Darling, du bist aber schnell wieder zurückgekommen! Wie war es denn in Deutschland? Hast du auch immer ordentlich gegessen?" Martha begrüßte Jule gewohnt überschwänglich, Jule hatte sich daran gewöhnt und insgeheim freute sie sich sogar, wenn Martha da war - auch wenn sie manchmal seltsame Fragen stellte, so wie an diesem Montagmorgen. „Äh... nein, hab ich nicht, Martha. Weißt du, seitdem die Alliierten uns besiegten, haben wir nichts mehr zu essen. Wir ernähren und hauptsächlich von den Amazonkartons. Mit etwas Wasser aufgeweicht geht das eigentlich ganz gut. Wir sind euch aber sehr dankbar für...." „Jaaaa ist ja gut. Ich habe verstanden, Jule. Kindchen, ich wollte doch nur wissen ob es dir gut ergangen ist. Weiß man doch nicht!" echauffierte Martha sich, während sie den obligatorischen Kaffee aufsetzte. „Und wurdest du denn... fündig... ich meine.. du weißt schon." Jule lächelte leicht. „Ja. Wurde ich. Und ich möchte, dass du den Brief liest - also nur, wenn du es auch möchtest." Martha entfaltete ein breites Lächeln. „Wirklich?? Also.... Wirklich?? Ach du liebe Güte.. ich weiß gar nicht, was ich sagen soll...." Aufgeregt wedelte sie mit den Händen vor ihrem Gesicht herum. „Du musst nichts sagen. Nur lesen." Jule stand auf und holte den Brief aus ihrem Schlafzimmer, um ihn Martha zu überreichen. „Aber bitte sei vorsichtig. Es... er ist mir wichtig." „Na was denkst du denn von mir, Kindchen?" fragte sie kopfschüttelnd.
Jule beobachtete Martha, während sie den Brief las, und man konnte die Emotionen förmlich aus ihrem Gesicht heraus greifen. Es dauerte nicht lang, bis Martha hemmungslos weinte. „Ich... weiß nicht was ich sagen soll.. was er da geschrieben hat. Auch über mich... ich... oh Gott!" Schluchzend legte sie die Hände vors Gesicht und versuchte, sich zu beruhigen. Es war herzzerbrechend, und Jule lief um den Tisch herum, um Martha zu trösten. Lang saßen Beide einfach nur da, hielten sich in den Armen und weinten.
„Ich.... Jule. Ich habe George geliebt. Wir... waren uns sehr nah..." Martha hatte sich wieder etwas beruhigt. „Ich weiß,... also... ich dachte mir das schon." „Es blieb immer unser Geheimnis. Wir wollten das so. Ich... wollte meinen Mann nicht verlassen, Jule, es war alles so kompliziert." Jule musste lächeln, „Ja... kompliziert, das konnte meine Familie ganz gut." Martha lächelte nun auch. Sie kramte ein Taschentuch aus ihrem Ärmel hervor und schniefte ausgiebig, bevor sie es wieder an derselben Stelle verstaute, und Jule versuchte, das irgendwie zu ignorieren. „Ich habe etwas für dich. George gab es mir, bevor er starb. Er bat mich, es dir nur auszuhändigen, wenn ich weiß, dass.... Naja... dass du soweit bist. Komm mit." Martha erhob sich und Jule folgte ihr in das Schlafzimmer, welches sie so gut wie nie betreten hatte. Martha lief zum großen Schrank aus Eiche, der mächtig den ganzen Raum kontrollierte, und öffnete eine der schweren Holztüren. Innen befand sich ein Safe. „George gab mir den Code, damit ich ihn dir mitteilen kann. Aber es geht eigentlich mehr um den Inhalt" sagte sie und gab die Zahlenkombination ein. Martha holte eine hölzerne Kiste hervor und überreichte sie Jule. „Schau dir alles in Ruhe an. Und wenn du mich brauchst, oder Fragen hast, dann melde dich ruhig. Ich versuche so gut ich kann, dir alles zu erklären. Aber jetzt muss ich was tun, Darling, sonst wird das hier nichts mehr. Hier sieht es wieder aus, du liebe Güte!!" Martha lächelte wiederum und drückte Jules Arm, bevor sie den Raum verließ und in gewohnter Manier mit den Putzarbeiten begann. Und so langsam verstand Jule, warum Martha trotz ihres Erbanteils noch immer jeden dritten Tag zur Arbeit erschien, als wäre nie etwas geschehen.
Jule hatte sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, Musik angeschaltet und sich mit der Kiste aufs Bett gesetzt. Vorsichtig öffnete sie die Kiste und betrachtete den Inhalt. Als erstes fiel ihr eine Schatulle ins Auge. Rund und goldfarben mit Verzierungen lag sie obenauf, und Jule öffnete auch diese. In der Schatulle lagen mehrere Schmuckstücke, auf den ersten Blick sah sie Armbänder und Ringe. Der erste Ring war silbern und schwer, ein Wappen war darauf abgebildet mit einem Anker und einem Tau. Kunstvoll waren die Buchstaben „GLC" in dem Wappen eingeflochten - offenbar ein Siegelring ihres Großvaters. Jule ahnte, dass dies eine ziemlich emotionale Angelegenheit werden würde, wenn sie sich die weiteren Inhalte ansehen würde und überlegte kurz, ob sie das heute schaffte. Auch wenn Martha da war, sie wollte ihr sicherlich nicht all ihre Emotionalitäten aufdrängen, sie hatte offenbar genügend mit ihrer eigenen Verarbeitung zu tun. Langsam drehte sie den Ring in ihren Fingern, bevor sie ihn auf ihren Ringfinger zog. Er war viel zu groß, selbst am Daumen rutschte der Ring locker herab, und Jule empfand tatsächlich Bedauern darüber. Sie legte den Ring zur Seite und sah in die Schatulle. Zwei Armbändchen waren zu sehen, offensichtlich aus echtem Gold. Die Armbänder waren sehr klein, als wären sie für Kinder, und Jule entdeckte Gravuren. „Noan 1962" stand auf dem Einen, und es war also klar, was auf dem Anderen stand. Die Gänsehaut begann an Jules Hinterkopf und zog sich über den gesamten Körper, als sie „Maria 1964" las, Jule verschloss fest ihre Augen, um die Tränen zu verhindern. Ihre Neugier siegte jedoch, also stöberte sie weiter in der Holzkiste.
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rich & broken
FanfictionJule Kaufmann, 30 Jahre, ist am Ende. Sie kifft und trinkt zu viel, ist notorisch pleite, steht kurz davor, aus der Wohnung zu fliegen und verdient sich ihren Lebensunterhalt als kleine Straßendealerin. So weit, so bescheiden - bis eines Tages ein f...